- Politik
- Machtwechsel in Syrien
Freude nach jahrelangem Leid
Weltweit haben Syrer das Ende der Diktatur gefeiert. Diese Menschen sind keineswegs naiv
Nach 13 Jahren Bürgerkrieg ist das Assad-Regime in Syrien durch eine Offensive der islamistischen Miliz Haiat Tahrir Al-Scham (HTS) gestürzt worden. Weltweit, auch in Deutschland, feiern Syrer*innen das Ende der Diktatur. Doch nicht alle teilen diese Freude. Einige linke Medienschaffende sehen in diesem Ereignis keinen Grund zum Feiern.
Der Journalist Benjamin »Ben« Norton, Gründer und Redakteur des »Geopolitical Economy Report«, deutet den Sieg der HTS vor allem als Ergebnis der Einmischung Israels und der USA. Er verweist auf frühere Kooperationen und Kontakte zwischen der israelischen Regierung und syrischen Rebellengruppen, über die auch israelische Medien berichtet haben. Für Norton ist der Niedergang Assads Teil eines amerikanischen Plans, die »Achse des Widerstands« gegen westlichen Imperialismus in der Region zu schwächen.
Noch schärfer äußert sich der Journalist Richard Medhurst. Am 8. Dezember erklärte er auf der Plattform X, die syrische Bevölkerung werde bald feststellen, dass sie sich »ins eigene Bein geschossen« habe und »Stabilität, Sicherheit und den letzten anti-zionistischen arabischen Staat« verloren habe. Ähnliche apologetische Statements über das Assad-Regime sind unter anderem auch von Max Blumenthal und Rania Khalek bekannt. Diese reichweitenstarken Stimmen, die der antiimperialistischen Linken zugerechnet werden, stellen das Geschehen allein in einen geopolitischen Kontext. Die Syrer*innen selbst werden allein als Schachfiguren wahrgenommen.
Doch die Menschen, die in den letzten Tagen gefeiert haben, sind eben keine »naive« oder »gehirngewaschene« Masse. Vielmehr verarbeiten sie das Ende eines Regimes, das jahrelanges Leid über sie brachte. Die Bilder befreiter Häftlinge aus dem berüchtigten Sednaya-Gefängnis sprechen Bände: Tausende Menschen, die Jahre brutaler Folter erlitten – und viele, die nicht überlebt haben.
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Die Freude über das Ende Assads ist keine Illusion. Sie entspringt echter Erleichterung nach realem Leid. Nach Jahren des Krieges sehen einige Menschen ihre vermissten Angehörigen erstmals wieder. Was soll man ihnen in diesem Moment sagen? »Freut euch nicht zu früh«? »Ihr versteht die Stabilität, die Assad euch gab, nicht«? Solche Aussagen wirken herablassend – und ignorieren die Realität: Das Assad-Regime war für viele Syrer*innen der Hauptgrund, ihre Heimat zu verlassen. Eine Umfrage der NGO Adopt a Revolution aus dem Jahr 2015 ergab, dass 70 Prozent der in Deutschland lebenden syrischen Geflüchteten angaben, vor Assad geflohen zu sein.
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Das bedeutet nicht, dass der Sturz eines Regimes wie dem von Assad keine ernsten Folgen hätte. Tatsächlich nutzen imperialistische Akteure das Machtvakuum aus. Israel hat seit Assads Fall bereits 480 Luftangriffe im Land durchgeführt und seine »Pufferzone« ausgeweitet. Auch die Türkei intensiviert ihre Besatzungspolitik und attackiert weiterhin die kurdische Bevölkerung in Rojava.
Gleichzeitig ist die Sorge um die religiösen und ethnischen Minderheiten Syriens berechtigt. Die HTS und ihr Anführer Abu Mohammad Al-Dscholani mögen sich derzeit gemäßigt geben, doch wie glaubwürdig ist diese Wandlung? Es wäre nicht das erste Mal, dass Islamisten aus taktischen Gründen eine moderate Fassade aufsetzen. Die Zukunft von Christen, Schiiten, Alawiten und Eziden bleibt ungewiss.
All diese Realitäten existieren gleichzeitig und müssen gleichermaßen berücksichtigt werden. Man muss über den Imperialismus reden, aber man muss auch anerkennen, dass er sich in Syrien einen bereits existierenden Konflikt zunutze gemacht hat. Das Aufbegehren gegen das Assad-Regime war nicht einfach ein Produkt israelischer und amerikanischer Intervention, sondern schlicht die Folge einer jahrzehntelangen Tyrannei. Gleichzeitig können innerhalb eines solchen Aufbegehrens reaktionäre und menschenfeindliche Ideologien an Macht gewinnen. Man kann den Menschen Syriens nicht die unmögliche Entscheidung abverlangen, zwischen einem folternden Despoten und fanatischen Terroristen das »geringere Übel« zu wählen. Vor allem kann man aber ihre Lebensrealität nicht einfach auf geopolitische Fragen reduzieren.
Ilyas Ibn Karim ist Religions- und Kulturwissenschaftler mit muslimischem Hintergrund.
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