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Ralle und Oever
Höhlenmalerei in Ostberlin als Dauerdenksportaufgabe
Es gibt Dinge, die begegnen einem ständig. Menschen vor allem. Zum Beispiel ein Partner oder die Arbeitskollegen. Aber natürlich auch Örtlichkeiten wie eine Haltestelle, ein Arbeitsort oder eine Wohnung. Mir geraten zwei bestimmte Menschen an einem bestimmten Ort jeden Tag ins Blickfeld, allerdings nicht leibhaftig, sondern symbolisch: in Form einer konservierten Nachricht an der Flurwand eines Hauses in Berlin-Friedrichshain.
Manchmal, wenn ich die Treppen hochsteige, denke ich, dass irgendwann ein Neutronenbombenkrieg ausbrechen wird, der die gesamte Menschheit dahinraffen, nicht aber ihre Hinterlassenschaft auslöschen wird. Tausend Jahre später wird dann eine außerirdische Expedition auf der Erde landen und die konservierte Nachricht an der Wand entdecken, in der »Oever« ausdrückt, dass er, wie verabredet, um 20.15 Uhr da war, aber »Ralle« nicht und dass »Oever« sich darüber verwundert zeigt und auffordert, diesbezüglich angerufen zu werden. Der Originalwortlaut geht übrigens so: »Hallo Ralle, ich war um 20:15 Uhr hier. Wo warst du? Ruf mich an, Oever.«
Wie lange eigentlich steht diese Nachricht schon an der Wand? Mindestens seit der Zeit, seit ich hier wohne, doch wann davor verschrieb sich Oever der modernen Höhlenmalerei? Und macht er das heute noch oder benutzt er Messenger? Gibt es viele Hausflure, in denen sich Oever verewigt hat oder erblicke ich tatsächlich den einzigen Original-Oever, ein Meisterstück Berliner Verabredungshistorie? Haben die beiden ihre Verabredung noch gehabt oder steht das noch aus?
Seit den achtziger Jahren war es in Ostberlin üblich gewesen, an der Tür eine Box mit Zetteln oder eine Rolle mit Abreißblättern zu befestigen, damit jemand wie Oever ganz devot eine klitzekleine Nachricht hätte hinterlassen können. Mal angenommen, Ralle hatte so einen Zettelkasten, warum hat dann Oever, dieser Arsch, die halbe Wand mit seinem wehleidigen »Du hast mich versetzt«-Gejammer vollgekritzelt? War Oever seinerzeit so verärgert gewesen, dass er sich gedacht hat: »Okay Ralle, dass du die Verabredung hast platzen lassen, sollst du nie vergessen, außer du malerst die Wand neu oder ziehst um.« Wenn es so gewesen ist, dann kann ich nur sagen: Danke, Oever, danke.
Und was ist mit Ralle? Warum war er an dem Abend nicht da gewesen? Wollte er sich nicht mit Oever treffen? War Ralle damals der abgefahrenste Typ von Berlin und hatte sich Oever, hässlich wie die Nacht, so interessant wie ein Radiergummi, an ihn herangeschmissen und einen Termin gemacht, den Ralle dann nachträglich auf keinen Fall einhalten wollte? Was bedeutete der Name »Ralle« überhaupt? Stand er für »Ralf Leopold« oder hieß Ralle schon immer Ralle oder kam er aus einem Ausland, wo man häufig so hieß? Und »Oever«? War das einfach nur der nackte Nachname? Fanden alle Oever so doof, dass sie ihn nur beim Nachnamen riefen?
Fragen über Fragen, die ich mir nicht seit gestern stelle, sondern schon seit Jahren. Ralle und Oever waren so präsent in meinem Leben wie keine anderen Menschen.
Einmal war ich nachts betrunken nach Hause gekommen und las wie so oft die Botschaft von Oever an Ralle, als ich einen Moment lang glaubte, ich sei Ralle und auch gleich dachte: »O Shit, ich habe Oever ganz vergessen.« Dann aber vergewisserte ich mich, dass ich weder Ralle, der Oever nicht treffen wollte, noch Oever war, der Ralle treffen wollte und fühlte mich erleichtert. Doch dieses Erlebnis brachte mich zu dem Entschluss, die Wandmalerei überpinseln zu lassen, um endlich diese Quälgeister loszuwerden. Ich rief bei der Hausverwaltung an, doch die lehnte mein Ansinnen ab mit einem »Ach, und dann sollen wir am besten noch das ganze Haus streichen, oder wie?« und als ich darauf antwortete: »Das wäre nicht schlecht«, da legte die freundliche Frau einfach auf. Das bedeutete, ich musste weiterhin mit Ralle und Oever auskommen oder selbst Hand anlegen. Dann aber würde ich immer auf eine viereckige Farbschicht schauen und wissen, dass dahinter Oever Ralle daran erinnert hatte … ach, lasse ich das einfach.
Eine Zeit lang versuchte ich, wann immer ich meine Etage erreichte, die Augen zu schließen, doch dann lief ich stets gegen meine Wohnungstür.
Letztendlich besorgte ich mir einige Eimer Farbe und strich von unten ab der Haustür bis hoch zu meiner Etage die Flurwände neu. Aus Gefälligkeit gegenüber meiner weiter oben wohnenden Nachbarn hätte ich ja den ganzen Hausflur streichen können, aber meine Nachbarn waren mir allesamt egal.
Kurz hatte ich den Gedanken, dass Oever vielleicht noch jemand anderen in diesem Haus besucht und nicht angetroffen hatte, aber das wollte ich einerseits nicht näher herausfinden und andererseits, sollten sich doch die oben Wohnenden mit einer weiteren Wandmalerei von Oever herumschlagen.
Ich hatte das Haus bislang nie weiter betreten als bis zu meiner Etage. Einen Moment lang keimte in mir der Verdacht, dass Oever womöglich im Haus wohnte. Spontan setzte ich einen Fuß auf die Treppenstufe, die ins Unbekannte führte und ließ dann doch wieder davon ab. Nein, ich wollte das nicht wissen.
Nachtrag
Später bin ich dann in den Wedding gezogen. Neben meiner Wohnungstür befindet sich eine Gipskartonverkleidung, die im Laufe der Zeit als Pinnwand für Nachrichten aller Art gedient hat. Vermutlich besuchten sich auch in Westberlin früher Leute ohne Verabredung und hinterließen eine Nachricht, wenn niemand aufmachte. Ein alter Freund hat vor dem Einzug hier mal hingeschrieben: »Hallo Robert, ich konnte die Tapete nicht kleben, Leim war zu alt.« Das ist aber noch nicht alles. Weiter oben findet sich eine Nachricht aus dem Jahr 2002: »Mensch Kuppe, wo biste denn? Ich steh hier wie ein Depp. Melde dich mal bei mir. Gruß, Pockel«.
Inzwischen wurde die Gipskartonverkleidung von der Hausverwaltung übermalt. Aber häufig, wenn ich die Tür aufschließe, blicke ich auf die Stelle und frage mich, ob es sich bei »Pockel« um »Oever« handelt und »Kuppe« früher mal »Ralle« genannt wurde.
Schade, dass ich nie eine Antwort auf diese Frage erhalten werde.
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