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Die Würde des Einkaufswagens ist unantastbar
Heil dem Warentrenner! Der Supermarkt ist der Ort, an dem sich die Hässlichkeit des Kapitalismus am deutlichsten offenbart
Als ich kürzlich an der Discounter-Kasse meine Einkäufe vom Kassenfließband in meinen Rucksack räumte, der sich wiederum in meinem Einkaufswagen befand, geschah Folgendes: Der Mann an der Kasse deutete, während er die Produkte über den Scanner zog, mit einem scheelen Seitenblick auf das in einer Papiertüte verpackte Baguette, das aus meinem Rucksack ragte und das ich eine halbe Stunde zuvor in einem anderen Supermarkt gekauft hatte. »Ist das da auch von uns?«, fragte er mich in halb drohendem, halb feindseligem Ton, woraufhin ich ihm antwortete, dass ich das betreffende Brot woanders erworben habe. Der Kassierer sah mich ungläubig an.
Ich unterbrach mein Einpacken kurzerhand, holte das Baguette aus meinem Rucksack und warf es mit einer Geste, die Verachtung ausdrücken sollte, vor ihn hin. Dann wies ich mit meinem Zeigefinger auf das auf der Papiertüte klebende Etikett, auf welchem deutlich der Preis und der Name des Konkurrenzsupermarktes zu lesen war. »Sehen Sie das?«, fragte ich. »Ist das möglicherweise Beweis genug, dass ich hier, in Ihrem Netto-Markt, keinen Scheißdreck im Wert von 1,29 Euro gestohlen habe? Oder holen Sie jetzt die Polizei und ich rufe meinen Rechtsanwalt an?« Die sollten mich kennenlernen.
»Sie sind schuld! Sie hätten, als Sie hier reinkamen, Ihr woanders gekauftes Brot dem Personal vorzeigen müssen, damit solche Missverständnisse ausgeschlossen sind.«
Aktivbürgerin an der Discounter-Kasse
Denn nicht genug damit, dass ich regelmäßig bei jedem Einkauf von der Kassiererin oder dem Kassierer gefragt werde, ob ich mal eben »kurz« meinen im Wagen stehenden Rucksack »anheben« könne, damit man sehen kann, ob ich darunter gestohlene Ware versteckt halte – jetzt wird mir obendrein auch noch unterstellt, ich würde im Rucksack Backwaren hinausschmuggeln, womöglich um hinterher großzügig damit Obdachlose und Kommunisten durchzufüttern.
»Ich muss das fragen«, antwortete der Kassierer. »Am Ende hängt mein Arbeitsplatz daran.« Bevor ich wiederum darauf antworten konnte, mischte sich unversehens die Frau ein, die in der Schlange hinter mir stand und mir beim Warten bereits ungeduldig ihren Wagen in die Kniekehlen gestoßen hatte. Eine diensteifrige Aktivbürgerin erster Klasse, 100 Prozent autoritärer Charakter. Die Sorte Mensch, die in Zeiten des Faschismus die Polizei darauf hinweist, wo diejenigen wohnen, die noch zu deportieren sind. An mich gewandt schimpfte sie: »Sie sind schuld! Sie hätten, als Sie hier reinkamen, Ihr woanders gekauftes Brot dem Personal vorzeigen müssen, damit solche Missverständnisse ausgeschlossen sind.«
Ich gab auf. Ich antwortete nicht, sondern nahm meinen Rucksack und ging.
Ich bin mir nicht sicher, ob in einer besseren Zukunft nicht mit Lebensmitteln anders verfahren werden sollte: Statt von Konzernen verkauft, sollten sie vom Revolutionsrat verteilt werden.
Thomas Blum ist grundsätzlich nicht einverstanden mit der herrschenden sogenannten Realität. Vorerst wird er sie nicht ändern können, aber er kann sie zurechtweisen, sie ermahnen oder ihr, wenn es nötig wird, auch mal eins überziehen. Damit das Schlechte den Rückzug antritt. Wir sind mit seinem Kampf gegen die Realität solidarisch. Daher erscheint fortan montags an dieser Stelle »Die gute Kolumne«. Nur die beste Qualität für die besten Leser*innen! Die gesammelten Texte sind zu finden unter: dasnd.de/diegute
Sicher ist jedenfalls: Supermärkte gehören zu den trostlosesten Orten der Gegenwart.
An vieles hat man sich längst gewöhnt: an die menschenfeindliche Neonbeleuchtung, an die Dauerbeschallung der Kundschaft mit Reklame, an die Ausbeutung und Enthumanisierung der dort arbeitenden Menschen. (Früher hatten sämtliche Supermarktangestellten eine halbwegs überschaubare Tätigkeit mit Verschnaufpausen dazwischen. Heute hat ein einziger die Arbeit von drei Personen zu verrichten, muss ununterbrochen verfügbar sein und bis zur totalen Erschöpfung zwischen sämtlichen anfallenden Tätigkeiten wechseln: Kassieren, Rollbehälter und Hubwägen durch die Gänge manövrieren und entladen, Waren einräumen, Kunden Auskünfte geben.)
Nicht zu vergessen die deutscheste aller Erfindungen: der Warentrennstab, auch »Warenseparator« genannt, mit dem die Grenzziehung zu den Kunden, die an der Kasse hinter und vor einem stehen, vorgenommen wird und der die Aufrechterhaltung der Ordnung auf dem Kassenfließband garantiert. Ordnung muss sein. Wehe dem, der sie missachtet, indem er keinen Trennstab verwendet!
Auch viele andere Handlungen sind einem in Fleisch und Blut übergegangen: etwa dass man bei jedem Einkauf wie ein ferngesteuerter Trottel einen Euro in den »Münzriegel« des Einkaufswagens steckt, diesen dann von der Kette, an der er angebracht ist, löst und ihn nach dem Einkauf wieder in die überdachte Einkaufswagengarage zu den anderen Wagen zurückbringt. Eine Handlung, die fast alle Menschen internalisiert haben, wie den Toilettengang und das Händewaschen. Man handelt im Grunde wie ein dressiertes Zirkuspferd. Und man hat noch etwas dabei gelernt: Die Würde des Einkaufswagens, dessen Parkplatz meist mit einem Dach versehen ist, ist in dieser Gesellschaft höher einzustufen als die des Bettlers, der kein Dach überm Kopf hat. Geheiligt werde die Unversehrtheit des Einkaufswagens, der vor Witterungseinflüssen geschützt werden muss.
Eine andere Neuerung, die zu Adornos Lebzeiten noch als Realsatire durchgegangen wäre: der Kunde, der bereitwillig an einem Automaten seinen eigenen Einkauf abkassiert. Der eindimensionale Mensch in Vollendung. Der ideale Untertan. Er ist vergleichbar mit dem Delinquenten, der seine Bestrafung an sich selbst vollzieht. Die Perfektion dessen, was als die »verwaltete Welt« bezeichnet wurde: die endgültige Liquidierung des Individuums, der Sieg der Totalität von Herrschaft.
Der Supermarkt – kein anderer Ort existiert, an dem man so sehr auf das reduziert wird, was man im Grunde ist: ein Sklave, ein personifiziertes Bankkonto, ein Schaf mit EC-Karte.
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