»The Vice Story«: Vom Revoluzzer zum Verräter

Das Popkultur-Magazin »Vice« war mal Punk, dann Pop – und endete als PR eines antisemitischen Trump-Fans, wie eine Doku aufarbeitet

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 4 Min.
»Vice« und wie es die Welt sah
»Vice« und wie es die Welt sah

Des Königs neue Kleider machen Leute bisweilen zu etwas völlig anderem als dahintersteckt. Wer beispielsweise Gavin McInnes in einer ARD-Dokumentation mit dem merkwürdig alliterierenden Untertitel »Gosse. Gonzo. Größenwahn« sieht, vermutet alles Mögliche: Ein Banker, dem all das Geld doch nicht die Stilsicherheit verdorben hat? Ein Hipster, der ein bisschen zu akribisch auf elegante Exzentrik setzt? Ein Boomer, der im Jugendwahn zusehends verbissen um Deutungshoheiten kämpft? Alles denkbar. Aber ein misogyner Holocaust-Leugner mit eigener Nazi-Brigade?

McInnes würde zu Beginn des ARD-Dreiteilers »The Vice Story« vermutlich kaum jemand hinter dem Mitbegründer des aufsehenerregendsten Lifestyle-Magazins unserer Epoche erwarten. Dass sich ausgerechnet dieses charmante Großmaul am Ende als Kopf der martialischen Trump-Kameradschaft Proud Boys erweist, passt allerdings schon irgendwie zu einer radikalen Zeitschrift, die er vor genau 30 Jahren mit Suroosh Alvi und Shane Smith in Montreal gegründet hat. »Ein Hipster, ein Hacker, ein Abzocker«, beschreibt McInnes sein Trio vorm Aufbruch in neue Zeiten, dem ein Abstieg sondergleichen folgte.

»Ein Hipster, ein Hacker, ein Abzocker«, beschreibt McInnes sein Trio vorm Aufbruch in neue Zeiten, dem ein Abstieg sondergleichen folgte.

Nach ein paar Tausend Jahren Krieg schien die Menschheit 1994 schließlich kurz auf dem Weg Richtung Frieden zu sein und wollte dabei vor allem eines: bedingungslosen Spaß. Plötzlich war Eskapismus kein betriebsblinder Rückzug aus der Gegenwart, sondern wohlgemut der Zukunft zugewandt. Und die »Vice« steuerte das publizistische Fluchtfahrzeug. Auf Basis des »New Journalism«, als Popliteraten wie Hunter S. Thompson die 70er aus persönlicher Perspektive betrachtet und die Berichterstattung damit vom Korsett neutraler Objektivität befreitet haben, blies »Vice« zur Anarchie unbedingter Nähe.

Wenn deren Reporter fortan über Extremsport und Kriegsverbrechen, Drogenkartelle oder Waffenhändler, Techno-Raves und ähnliche Ausnahmesituationen erzählten, waren sie meist mittendrin, statt nur dabei. Mehr noch: Nicht wenige davon wurden aktiv inszeniert, provoziert, konstruiert; ein berufsethisch anrüchiges, betriebswirtschaftlich lukratives Ertragskonzept, das die Zeitschrift zur Marke machte, die Marke zum Selbstzweck, den Selbstzweck zur Marke und wieder von vorn. Weil die »Vice«, englisch für »Laster«, rund um den Erdball kostenlos war, bestand ihre Haupteinnahmequelle nun mal aus Werbung.

Mit wachsender Strahlkraft allerdings wurden die Inhalte Teil der PR und umgekehrt – auch »Advertorial« genannt. Oder wie es Christoph Voy, hierzulande »Vice«-Fotograf der ersten Stunde, fürs Gesamtkonzept ausdrückt: »Eine Scheiß-drauf-Mentalität wie beim Punk, aber sehr ehrgeizig.« Zu dumm, dass sich dieser Ehrgeiz bald auf Kontoauszüge statt Content konzentrierte und Aufmerksamkeit höher gewichtete als den Anspruch, die avantgardistische Gatekeeper-Funktion klassischer Medien interaktiv zu pulverisieren.

Kein Wunder, dass »Vice« die Zeitungskrise nach dem Platzen der Dotcom-Blase 2002 dazu nutzte, vom geduldigen Papier auf hastige Videos umzusteigen. Doch damit gingen nicht nur die letzten Reste journalistischer Sorgfalt flöten. »Vice« griff auch den Resonanzräumen sozialer Medien inklusive deren Verrohung zu Blasen heutiger Hass-Bubbles vor. Wer in der ARD-Mediathek nun die Beteiligten jener bewegten Jahre vom früheren Reporter Thilo Mischke bis zur Text-Chefin Sara Schurmann hört, spürt die Mischung aus Trauer und Entsetzen übers Abgleiten ihrer publizistischen Heimat in die Abgründe des Agenda-Kapitalismus.

Schließlich hagelte es parallel zur PR-Fixierung nicht nur redaktionelle #MeToo-Skandale; gegen das Abflachen der Erregungskurve ging die »Vice« bereitwillig mit Islamisten auf Menschenjagd, umwarb diabolische Diktatoren und geriet zuletzt folgerichtig an saudi-arabische Sponsoren. Damit ähnelt »The Vice Story« frappierend der fabelhaften »Viva-Story« an gleicher Stelle, die den ähnlich alten, ebenso so kläglich gescheiterten Musiksender vorigen Sommer mit einer dreiteiligen Doku zerlegt hat, besser: zerlegen musste.

Denn beide wollten den Hedonismus der postheroischen 90er zwar in popkulturelle Freiheit übersetzen. Beide haben diese Freiheit zum Regelbruch jedoch mit der Freiheit zur Bereicherung verwechselt und sind damit völlig zu Recht gegen die Wand gefahren. So ist »Gosse. Gonzo. Größenwahn« nur ein weiteres Brandzeichen, das die Marktwirtschaft ihrer Medienbranche auf den Pelz brennt, um zu zeigen, wer über Aufstieg und Fall bestimmt. Visionäre sind es jedenfalls nur noch dann, wenn sie größenwahnsinnig werden wie Shane Smith, Trump-Fans wie Gavin McInnes – oder wie im Fall der »Vice« eben beides.

»The Vice Story – Gosse. Gonzo. Größenwahn« ist zu sehen in der ARD-Mediathek.

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