Verkehrswende ist soziale Teilhabe

Mobilitätsexpertin Clara S. Thompson über Gerechtigkeit, Autodominanz und die Frage der Bequemlichkeit

Rad- und Gehwegbrücke Bryggebroen am Hafen von Kopenhagen: 45 Prozent der Einwohner legen ihre Wege mit dem Rad zurück.
Rad- und Gehwegbrücke Bryggebroen am Hafen von Kopenhagen: 45 Prozent der Einwohner legen ihre Wege mit dem Rad zurück.

In Ihrer Studie »Mobilität für alle« stellen Sie eine Reihe progressiver verkehrspolitischer Konzepte von Städten innerhalb und außerhalb Europas vor. Ein deutsches Best-Practice-Beispiel findet sich hier nicht. Gibt es keines, weil die Autolobby hierzulande einfach noch politisch zu stark ist?

Tatsächlich bin ich in der Recherche für dieses Buch immer wieder auf Beispiele aus Deutschland gestoßen, allerdings meistens Negativbeispiele. Wenn man sich beispielsweise anschaut, wie viele Menschen ihre Alltagswege mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurücklegen, gibt es in Wien eine beeindruckende 30-Prozent-Quote; in Hamburg ist sie mit 24 Prozent deutlich niedriger. Hier spiegelt sich nach wie vor die autodominierte Politik der letzten Jahre wider. Aufgrund der Priorisierung dieses Verkehrsmittels wurden klimafreundliche und soziale Maßnahmen nicht so sehr gefördert.

Trotz unterschiedlicher Voraussetzungen ist die Richtung der Konzepte einheitlich: Autoverkehr muss verringert, die Mobilität mit öffentlichen Verkehrsmitteln, dem Fahrrad oder zu Fuß muss gestärkt werden. Was kann oder sollte man in Deutschland aus den Beispielen von Kopenhagen bis Jakarta sonst lernen?

Zum Beispiel dies: Soziale Gerechtigkeit bei verkehrspolitischen Maßnahmen ist nicht etwas, was von oben herab entschieden wird. Die Politik muss zum einen im Planungsprozess Bürgerinnen und Bürger einbeziehen und zum anderen klar kommunizieren, dass alle von den Maßnahmen profitieren. Es sollte eben nicht nur die Autonutzung unbequemer werden, sondern gleichzeitig auch eine Alternative bequemer, sodass Menschen nicht das Gefühl haben, es wird ihnen etwas weggenommen. Im deutschen Diskurs wird oft gesagt wird, das geht nicht oder es gibt da zu große Widerstände. Wir könnten aber viel mutiger sein, als wir es bis jetzt sind.

Interview

Clara S. Thompson ist Mobilitätsexpertin und arbeitet als Fach­campaignerin bei Green­peace. Von der früheren nd-Kolum­nistin erschien gerade ihr Buch »Mobilität für alle«, herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brüssel. Online erhältlich unter:
https://www.bestellung.rosalux.de/Mobilität-für-alle-p714005137

Eine soziale Verkehrswende sollte also nicht einfach von der Stadtverwaltung verordnet werden, sondern die Leute vor Ort sehr konkret einbeziehen?

Es geht um soziale Gerechtigkeit in der Maßnahme, aber auch um soziale Teilhabe in der Vorbereitung. Die Mobilität in der eigenen Stadt oder im eigenen Dorf mitbestimmen zu können, ist ein tiefes Bedürfnis vieler Menschen. Es gibt nichts, was einen mehr betrifft als das unmittelbare Umfeld. Wenn das in der Politik nicht mitgedacht wird, ist es klar, dass es Widerstände gibt. Es gibt viel größere Offenheit für Veränderung, wenn Menschen mitgenommen werden und sie ihren eigenen Stadtraum mitgestalten können.

In Barcelona, schreiben Sie, war es das Konzept, neue Maßnahmen erst einmal für ein oder zwei Jahre auszuprobieren. »Zunächst mag es Widerstand geben, doch wenn die Menschen die Vorteile erleben, werden sie die Veränderung annehmen.« Hat das funktioniert?

Nicht nur dort: In einer Straße in Kopenhagen konnte eine Verkehrsberuhigung erst umgesetzt werden mit der Vorgabe, dass das vorerst für einen bestimmten Zeitraum ausprobiert wird. Das geht auf den Grundsatz zurück, dass Menschen, nicht nur in Fragen der Verkehrsplanung, erst mal gegen Veränderung sind. Das ist ein natürlicher Schutzmechanismus, alles auf die negativen Aspekte hin abzuscannen. Daher ist es psychologisch geschickt zu sagen, wir probieren das eine Zeitlang erst einmal aus. Oftmals merken Menschen dann in der Praxis, dass ihnen weniger Autos und mehr Raum für Menschen im direkten Umfeld guttun. Wenn sich nach einem halben Jahr herausstellt, dass die Maßnahme keinen Sinn macht, muss sie aber auch rückgängig gemacht werden.

Wie zentral ist dabei die Frage der Bequemlichkeit?

Wenn man eine Sache unbequemer machen will, die klimaschädlich ist, muss man eine andere bequemer machen. Menschen wollen einen gewissen Komfort in der unmittelbaren Nähe. Da finde ich das Beispiel von Wien sehr spannend. Dort wurde über Jahrzehnte hinweg der Plan umgesetzt, von der Autodominanz zu einer Fußgänger*innenmobilität zu kommen. Es geht also nicht um eine einzelne Maßnahme, sondern um verschiedene, die ineinandergreifen und eine gewisse Gleichzeitigkeit schaffen. Wenn einfach nur die Parkraumbewirtschaftung ausgebaut und der Parkraum teurer gemacht wird, gibt es einen Aufschrei. Das wurde unter anderem aufgefangen durch die Einführung des 365-Euro-Tickets, mit dem alle Wiener*innen kostengünstig von A nach B kommen können.

Apropos 365-Euro-Ticket: Wie zentral ist der Preis für die Frage der sozialen Gerechtigkeit der Verkehrswende?

Der Preis ist wichtig, aber es gibt weitere soziale Faktoren. Etwa die Frage, wie sich Menschen im Alltag bewegen. Eine ehemalige Bürgermeisterin aus Kopenhagen sagte mir im Gespräch, man habe sehr gute Maßnahmen in der Innenstadt umgesetzt, aber in bestimmten Randgebieten gibt es weiter eine große Abhängigkeit vom Auto. Die normalen Alltagswege führen aber nicht nur in die Stadt hinein, sondern auch zwischen den Stadtgebieten am Rand müssen die Bus- und Bahnverbindungen verbessert werden. Man muss die Umstellung für alle ermöglichen, nicht nur für die, die zum Arbeiten in die Stadt fahren.

Noch schwieriger dürfte es in dünn besiedelten Gebieten auf dem flachen Land werden.

Die größte Herausforderung ist die Frage von Angebot und Nachfrage, ein Grundprinzip in unserem Wirtschaftssystem. In der weniger stark besiedelten Fläche ist die Nachfrage gering. In dem Zusammenhang finde ich das Beispiel von Mexiko sehr spannend: Mobilität wurde hier als Grundrecht institutionell verankert. Auf Deutschland übertragen, würde das bedeuten: Es ist auch ein Recht von Personen auf dem Land, dass sie, sagen wir, mindestens zweimal in der Stunde von ihrem Ort wegkommen können, etwa durch Ruftaxis. Und dies so kostengünstig, dass es sich alle leisten können. Wir müssen uns von bestehenden Logiken verabschieden, aber auch da bin ich zuversichtlich, dass wir es dahin schaffen können.

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