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Assad, Moo Dengund Baby Jesus
2024 – Was für ein Jahr war das bitte?
Howdy aus Texas, liebe Leser*innen,
Sie haben die letzte Talks-Kolumne des Jahres vor sich. Und was für ein Jahr war das bitte? Kein einziger Krieg wurde beendet, sondern die bestehenden wurden nur noch verschärft, ein bereits abgewählter, abgeschriebener und auch noch verurteilter Mann wurde wieder zum wichtigsten Regierungsoberhaupt der Welt erkoren, und ein paar Umweltkatastrophen gab es auch noch. Im Sudan und in Myanmar finden im Westen niemanden interessierende Bürgerkriege statt, in Afghanistan dürfen Frauen in der Öffentlichkeit weder singen, vorlesen noch lachen (ich bezweifle, dass ihnen überhaupt noch zum Lachen zumute ist), in Syrien ist Diktator Assad zwar weg (und mit weg meine ich in einer Luxusbude in Moskau am Chillen), der Bürgerkrieg tobt aber mit unbekanntem Ausgang weiter.
News aus Fernwest: Jana Talke lebt in Texas und schreibt über amerikanische und amerikanisierte Lebensart.
2024 war bei uns in der westlichen Welt aber auch das Jahr der Taylor-Swift- und der Ozempic-Manie, die die Menschen um uns herum plötzlich in dünne Pailletten-Püppis verwandelte. Paris (die Stadt, nicht die Frau) bewies sich wieder als Königin der Welt mit ihren sexy Olympiaspielen (vielleicht nicht die Spiele an sich, obwohl es auch da entsprechende Beweise gab, aber die Performances davor waren doch sehr kokett), der bewegenden Wiedereröffnung von Notre-Dame und dem 150. Jahrestag des Impressionismus. Vielleicht wird Tiktok nächstes Jahr verboten, aber 2024 war dank der Plattform auch das Jahr der Zootiere wie des Zwergflusspferds Moo Deng oder des Riesenbaby-Pinguins Pesto, deren putzige Posts uns heitere Momente inmitten der Tristesse schenkten. Und während ich diese Zeilen schreibe und im Netz nach mehr heiteren Ereignissen des Jahres suche, lese ich stattdessen, dass Bundeskanzler Scholz die Vertrauensfrage verloren hat.
Also doch lieber zurück zu Tiktok. Dort wurde ich unlängst an ein Event in meiner Stadt erinnert, das ich aus Recherchegründen (und dem Wunsch zu lachen, solange das Frauen in den USA noch nicht verboten ist) unbedingt besuchen wollte: das Weihnachtsspektakel unserer berühmt-berüchtigten Baptisten-Megachurch. Auf der Website ein Schreck: Nicht nur kosten drei Tickets mehr, als ich mit dieser Kolumne verdiene (drei, weil meine Eltern zu Besuch bei uns sind und ich ihnen diesen Kulturschock nicht vorenthalten wollte), auch ergatterte ich die allerletzten verfügbaren Plätze. Dann bereitete ich meine Eltern vor: Es wird irre, da gibt es Zebras, die Kirche liebt Trump, man kann sich in einem Pool taufen lassen, bitte lacht nicht so laut.
Und dann, noch ein Schreck: Die Show gefiel uns! Sie war sehr aufwendig und teuer inszeniert – das mögen wir Russen –, und die Sänger, Tänzer und Akrobaten leisteten allesamt gute Arbeit. Im ersten Akt ging es um Santa Claus; der zweite spielte die Geburt Jesu, den man selbst nie sieht, sondern nur kurz brüllen hört, spektakulär nach (mit Kamelen, geschminkten fliegenden Engeln und den Heiligen Drei Königen in Kutschen und fiercen Looks). Meine Mutter verglich die Show mit denen im Friedrichstadtpalast, und diese Parallele mag nicht nur für das Visuelle zutreffen, sondern auch für die Abwesenheit von Frömmigkeit (zum Glück, denn wir drei sind Atheisten) – zumindest hatte man diesen Eindruck während des Konzerts; wir blieben vorsorglich nicht zur Predigt. Was tut man nach so einem verwirrenden Erlebnis? Man postet auf Tiktok drüber.
Mein Clip erhält zu viel Resonanz für meinen Geschmack: über 1000 auf Krawall gebürstete Kommentatoren, die sich in zwei Lager spalten: Hardcore-Christen und Sozialisten. Ersteren ist die Show heidnisch, satanisch, blasphemisch, heuchlerisch, sektenartig, vulgär, götzen-, scharlatan- sowie schandhaft. Einige wollten kotzen, andere kacken wie ein Schaf auf der Bühne. Die Sozialisten fordern in der Kommentarspalte einstimmig: »Tax the church!« Dass in Deutschland andersrum die Bevölkerung von der Kirche besteuert wird, würde die Commie-Kommentatoren schockieren. Aber natürlich bin ich auf ihrer Seite, die Kirche und der Pastor sind zu reich! Die kritischen Kommentare überfordern mich; ich fühle mich nicht nur schlecht, dass ich das Konzert besucht habe, sondern, dass ich es auch noch mochte.
Manchmal wünscht man sich, man wäre mehr wie Moo Deng: niedlich, unbeschwert und von allen bewundert! Und mit diesem bescheidenen Wunsch verabschiede ich mich – bis nächstes Jahr in alter Frische, liebe Leser*innen!
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