Ein »Farad« für Asad

In ehrenamtlicher Arbeit macht ein Verein in ­­Berlin-Neukölln Fahrräder für Hilfsbedürftige fit

»Gute Laune vor Effizienz« – so könnte das Motto der Faradgang lauten.
»Gute Laune vor Effizienz« – so könnte das Motto der Faradgang lauten.

Asad braucht ein Rad. Viel mehr wissen die Menschen vom Verein Faradgang nicht, als er an einem Montagabend in die Jugendwerkstatt Stattknast in Berlin-Neukölln tritt. Der Mann mit dem zurückhaltenden Lächeln hat einen Freund mitgebracht, der ihm beim Übersetzen hilft, er selbst spricht nur Persisch. Einer der sieben Schrauber, die heute in der Fahrradwerkstatt tätig sind, zeigt auf das sportliche Stahlrahmenrad in Blau, das gerade noch einen letzten Check durchlaufen hat und nun in einer Ecke lehnt, an einem Stapel aus alten Reifen und Montageständern. Es ist das Fahrrad, dass sie für Asad bereitgestellt haben. Der aber schüttelt den Kopf. Er deutet auf das schwarze Rad dahinter – doch das steht leider nicht zur Verfügung. Die ehrenamtlichen Mechaniker verstehen Asad auch ohne Worte: Es ist der tiefe Einstieg, den er an dem schwarzen Fahrrad mag.

Ein Grüppchen macht sich auf in den Keller. Im kalten Licht einer Neonröhre stehen dort dutzende Räder, manche fahrtüchtig, andere nicht. Von den Decken hängen alte Reifen, wie eigentlich überall in den Räumen der Werkstatt. An jedem erdenklichen freien Platz stapeln oder reihen sich Ersatzteile aneinander. Um daran zu gelangen, muss man schon einmal mit einem selbstgebauten Haken an einem Holzstiel danach angeln. Nach ein paar Minuten kommt die Truppe die schmale Treppe wieder hoch. Im Schlepptau: ein Rad mit tiefem Einstieg, hinten ist der Rahmen sogar gefedert. Genau das, was Asad gesucht hat. »Mein Freund hat Rückenschmerzen und sucht eine Möglichkeit, sich ohne große Schmerzen zu bewegen«, erklärt sein Begleiter. Ein Manko hat das Fahrrad allerdings – in seinem aktuellen Zustand ist es kaum verkehrstauglich.

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Eigentlich läuft es bei der Faradgang so: Einmal pro Woche treffen sich hier ein paar engagierte Tüftler und bereiten gespendete Fahrräder auf, die sie dann an Menschen weitergeben, »die aufgrund finanzieller, sozialer, gesundheitlicher oder politischer Umstände auf Hilfe angewiesen sind«, wie es auf der Vereinswebsite steht. Normalerweise finden die beiden Prozesse zeitlich versetzt statt. Es gibt eine Handynummer, über die sich Interessierte beim Verein melden können. Sie teilen die wichtigsten Informationen mit, wie etwa die Körpergröße. Dann kommt man auf eine Warteliste. Auf der befinden sich laut Vereinsangaben meist zwischen 10 und 20 Personen. Im Schnitt dauert es etwa zwei Monate, bis man ein Fahrrad abholen kann.

Nur in Ausnahmefällen wie heute ist es so, dass das Wunschrad erst noch überholt werden muss. Asad und sein Freund entscheiden sich zu warten. Wir unterhalten uns etwas mithilfe des Übersetzungstools auf dem Handy. Die beiden wohnen in Oranienburg, etwa 40 Kilometer von Berlin entfernt. Keine Strecke für ein Stadtrad. »Ich hoffe, das Fahrrad vor allem zum Einkaufen nutzen zu können«, sagt Asad und greift mit seiner Hand an den unteren Rücken. Praktischerweise befindet sich der Einkaufskorb schon an dem Rad. »Für uns bedeutet das jetzt natürlich Zeitstress«, sagt einer der Helfer. »Aber vielleicht schaffen wir es ja in einer halben Stunde.«

Die Werkstatt ist gleichzeitig auch ein riesiges Ersatzteillager.
Die Werkstatt ist gleichzeitig auch ein riesiges Ersatzteillager.

Die Faradgang gibt es bereits seit 2014. Gegründet in Köln, entstand vor einigen Jahren auch ein Ableger in Berlin. Mitgebracht aus der Domstadt: der eigenwillige Name der Initiative. Am Besprechungstisch in der Werkstatt weiß zur Herkunft niemand etwas Genaueres, außer dass es lustig wäre, sich bei jeder Nachfrage danach eine neue Begründung einfallen zu lassen. Ein Vereinsmitglied stößt dann aber im Internet auf einen Artikel des Kölner Lokalmagazins »Meine Südstadt«, demzufolge einer der Gründer sich schon immer fragte, warum das Wort Fahrrad so kompliziert geschrieben wird – und prompt eine vereinfachte Schreibweise erfand. Heute arbeiten beide Vereine relativ unabhängig voneinander. Das Ziel ist aber dasselbe, wie Omid erklärt, der schon länger Mitglied ist: Es geht darum, Menschen, die Unterstützung brauchen, ein Stück ihrer Freiheit zurückzugeben. Gerade Geflüchtete sind häufig in Sammelunterkünften in den Außenbezirken untergebracht, dort wo Busse und Bahnen seltener fahren. »Ein Fahrrad kann da Abhilfe schaffen«, sagt Omid.

Eine Studie, die die Mobilität von »neuen Immigrant*innen«, so heißt es darin, in der Rhein-Main-Region untersucht hat, bestätigt diesen Zusammenhang. Demnach stieg zur Zeit der Erhebung nur jede*r zehnte Befragte aus einem zentral gelegenen Stadtteil täglich aufs Rad; unter jenen, die in Randbezirken wohnen, war es jede*r zweite. Weitere Untersuchungen zeigen: Menschen mit Migrationserfahrung, die in schlecht angebundenen Gegenden leben, sind weniger mobil und pflegen weniger Kontakt außerhalb ihrer direkten Umgebung. Das wiederum erschwert es, Arbeit zu finden, und fördert die Vereinsamung. Mobilität ist eben mehr, als nur von A nach B zu kommen.

Ein erster Check hat ergeben, was alles gemacht werden muss an Asads neuem Rad: Hinten hat es einen Achter, das Licht funktioniert nicht, Pedale und Bremszüge müssen ausgetauscht werden. Hinzu kommen die üblichen Wartungsaufgaben wie das Einstellen der Schaltung oder die Überprüfung, ob der Rahmen beschädigt ist. Der fehlende Sattel fällt da noch am wenigsten ins Gewicht.

Es geht darum, Menschen ein Stück ihrer Freiheit zurückzugeben.

Ohne viel über die Aufgabenverteilung zu reden, machen sich vier Personen gleichzeitig an dem Rad zu schaffen. Ein Zweierteam übernimmt den vorderen Teil und ein Duo kümmert sich um das Hinterrad und die Schaltung. In dem darauffolgenden Gewusel ist es schwer, den Überblick zu behalten. Man könnte aber auch meinen, hier wären Zauberhände am Werk: Schwups, schon funktionieren die Bremsen wieder. Und schwups, da sind die Pedale gewechselt.

Bei aller Hektik am heutigen Abend bleibt die Werkstatt immer auch ein Ort zum Lernen. Die meisten, die hier arbeiten, haben sich das Schrauben selbst beigebracht. Oder sind, indem sie sich ein Rad bei der Faradgang abgeholt haben, erst zum Schrauben gekommen. Im »Team Hinterreifen« geht es etwa darum, wie man auf die Schnelle einen Achter zentrieren kann, ohne die Felge auszubauen. »Ist jetzt nicht perfekt, aber gut genug«, so der Tenor. Vom vorderen Ende des Zweirads ertönt ein Freudenschrei: Das Licht, es leuchtet! Allerdings ist es nur ein kurzer Moment der Euphorie, denn am Ende gehen auch bei der Faradgang Dinge schief – und Reparaturen sind komplizierter als gedacht. Dazu später mehr.

In das Geruchsgemisch aus Schmieröl und Gummi mischt sich der Duft von gebratenen Eiern aus der Küche. Vor der Pandemie war eine gemeinsame Mahlzeit fester Bestandteil eines Montagabends. Dann kamen die Kontaktbeschränkungen und Abstandsregeln. Jetzt versuchen sie hier das gemeinsame Abendessen wieder zu etablieren. Heute gibt es Strammer Max, und Omid hat gerettete Lebensmittel mitgebracht. Natürlich geht dadurch Zeit verloren, in der man noch mehr Fahrräder fit machen könnte, aber alle hier finden es wichtig, auch abseits der Montageständer zusammenzukommen.

»Wenn wir nur auf Effizienz schauen würden, dann gäbe es uns schon lange nicht mehr«, ist sich Omid sicher. Auch deshalb versuchten sie, so weit wie möglich auf Hierarchien zu verzichten. Nicht einmal einen Schichtplan gibt es bei der Faradgang. »Wir machen das so anarchistisch, wie es eben in einem Verein geht«, sagt Omid. Dieses Jahr hat der Verein knapp 60 Fahrräder verteilt. Im Vergleich zu den Vorjahren ist das viel. Es gibt in Berlin aber auch Projekte mit deutlich höheren Stückzahlen. Der Berliner Verein Rückenwind, der eine ähnliche Idee verfolgt, gibt an, in fast zehn Jahren knapp 4000 Räder an Geflüchtete ausgegeben zu haben.

Licht, Dynamo und Verkabelung: Drei Sorgenkinder bei vielen gespendeten Rädern.
Licht, Dynamo und Verkabelung: Drei Sorgenkinder bei vielen gespendeten Rädern.

Wichtig dabei: Ein Rad allein reicht nicht, um einem Menschen dabei zu helfen, mobiler zu werden. Denn während das Fahrradfahren für die meisten Menschen in Deutschland selbstverständlich ist, gilt das für viele Personen mit Fluchterfahrung nicht, insbesondere für Frauen. Denn Frauen auf Rädern – das ist in vielen Ländern verpönt oder sogar verboten. Ergänzend zu Werkstätten, die gespendete Räder aufbereiten, gibt es deshalb Initiativen wie Bikeygees, die Radfahrtrainings auch, aber nicht nur, für geflüchtete Frauen anbieten. Nach eigenen Angaben hat die Berliner Organisation bereits 2000 Frauen und Mädchen »aufs Rad gebracht«. Und auch in der Arbeit der Faradgang spielt das Verhältnis von Geschlecht und Rad eine Rolle: Der Verein bietet Reparaturworkshops für Flinta* (Frauen, Lesben, inter, nichtbinäre, trans und agender Personen) an. Sie finden allerdings nicht in der Jugendwerkstatt Stattknast statt, sondern in den Prinzessinnengärten, gleich in der Nähe. Im Rahmen einer offenen Werkstatt können Personen dort immer freitags auch ihr eigenes Rad reparieren und dabei Unterstützung bekommen.

»Wir machen das so anarchistisch, wie es eben in einem Verein geht.«

Omid Mitglied bei Faradgang Berlin e.V.

Im Stattknast wird derweil weiter an Asads neuem Rad gewerkelt. In der Eile haben sie ein wichtiges Teil beim Einbau der Schaltung vergessen. Das bedeutet: Hinterrad ab, Nabenschaltung zerlegen, Teil einsetzen und alles wieder einbauen. Und obwohl das Licht zwischenzeitlich funktioniert hat, macht es nun erneut Probleme – das Kabel zum Dynamo ist zu kurz. Ein Winkelschleifer muss ran. Funken sprühen und Kabel werden neu verdrahtet. Aus den erhofften 30 Minuten sind inzwischen fast zwei Stunden geworden. Während sich das Rad nun aber ganz sicher in der Zielgeraden befindet, bekommt Asad einen Fahrradschein ausgehändigt. In dem Faltpapier wird Rahmennummer und Modell eingetragen. Damit soll er in der Lage sein, Anzeige zu erstatten, wenn das Rad geklaut wird. Das Papier schützt ihn aber auch davor, selbst des Diebstahls bezichtigt zu werden. Zehn Euro muss er am Ende für sein Zweirad zahlen. Dafür bekommt er ein »stadtsicheres« Rad mit Schloss. Es habe sich gezeigt, dass Menschen mit ihren Rädern besser umgehen, wenn sie einen symbolischen Betrag dafür zahlen, erklärt ein Mitglied der Faradgang.

Und dann ist es geschafft: Asad schiebt sein Rad vor die Tür. Sein Begleiter wird wiederkommen, denn ihm ist sein bisheriges Fahrrad zu groß. Er hätte gerne ein kleineres, am besten eines mit tiefem Einstieg.

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