Trauer und Instrumentalisierungsversuche

Fünf Tote und 200 Verletzte nach Anschlag in Magdeburg

Zahlreiche Kerzen, Blumen und Kränze liegen beziehungsweise stehen vor dem Eingang der Johanniskirche in Magdeburg.
Zahlreiche Kerzen, Blumen und Kränze liegen beziehungsweise stehen vor dem Eingang der Johanniskirche in Magdeburg.

Freitagabend kam der Horror über Magdeburg. Ein Auto rast über den Weihnachtsmarkt in der Innenstadt. Innerhalb weniger Minuten werden fünf Menschen getötet und 200 verletzt. Der Fahrer des Wagens lässt sich danach widerstandslos festnehmen. Es ist ein 50-jähriger Mann, der aus Saudi-Arabien stammt. Während Rettungskräfte, auch aus benachbarten Bundesländern, nach Magdeburg eilen und Ärzt*innen und Sanitäter*innen um das Leben der Opfer des Anschlags kämpfen, gehen im Netz Spekulationen und Schuldzuschreibungen los.

Der Tenor ist schnell klar und eindeutig: Das muss ein islamistischer Anschlag gewesen sein! Dafür scheint alles zu passen. Ein Weihnachtsmarkt als Ziel und die Tat fast auf den Tag genau acht Jahre nach dem Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz. Doch die Spekulationen erweisen sich als falsch. Noch in der Nacht werden Details über den Tatverdächtigen bekannt.

Taleb A. lebt seit 2006 in Deutschland, arbeitete als Facharzt für Psychiatrie in Bernburg und war rege im Internet aktiv. Allerdings nicht als Islamist, sondern als Ex-Muslim und Islamkritiker. Bevorzugt nutzte Taleb A. die Plattform X (früher Twitter). Auf seinem Profil finden sich viele eindeutige Positionierungen. Er lobte rechte, islamfeindliche Agitatoren wie den Briten Tommy Robinson oder den niederländischen Politiker Geert Wilders. In Deutschland genoss die AfD seine Sympathie. Angela Merkel hielt er für eine Verbrecherin. Zu diesen politisch leicht zu deutenden Positionierungen kommen zahlreiche Beiträge, die schwerer zu entschlüsseln sind.

Zur Tatzeit postete Taleb A. mehrere Videos, die möglicherweise seine Motivation näher erklären sollen. Darin wirft er der deutschen Polizei unter anderem vor, einen USB-Stick aus seinem Briefkasten geklaut zu haben. Der Stick ist dabei ein Puzzlestück einer größeren Verschwörung, als deren Opfer sich Taleb A. wähnt. Auf einer Seite der Theorie ist da ein Flüchtlingshilfsverein, dem er vorwirft, Frauen in Drogensucht und Prostitution zu treiben. Taleb A. selbst hatte sich für Frauen, die aus Saudi-Arabien fliehen wollten, eingesetzt, wurde deswegen vor mehreren Jahren auch von Medien interviewt. Dass die jungen Frauen angeblich von dem Verein ausgenutzt wurden, hatte Taleb A. auch bei Behörden vorgebracht. Die handelten aber nicht so, wie Taleb A. es sich wünschte. Verschiedene Verfahren wurden eingestellt oder erst gar nicht eröffnet, weil die Vorwürfe zu vage waren. Wohl auch aus dieser Erfahrung entwickelte er die andere Seite seiner Theorie: Die deutsche Regierung und auch die Bevölkerung treiben die Islamisierung voran. So wurden sie für ihn zum Teil des Problems.

Aus seinem Hass machte Taleb A. kein Geheimnis. Mehrere Personen warnten vor Gefahren, die möglicherweise von ihm ausgehen könnten. Aber sie warnten an den falschen Stellen. Etwa beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, das nur auf die Polizei verwies. Konkrete Warnungen erreichten die Polizei wohl nicht. Trotzdem war Taleb A. etwa beim LKA Sachsen-Anhalt kein Unbekannter. Die Behörde ging aber davon aus, dass »keine konkrete Gefahr« von ihm und seinem Aktivismus ausginge. Einige islamkritische Ex-Muslime vertreten im Internet fragwürdige Thesen, ohne dass von ihnen mit Gewalttaten zu rechnen ist.

Rund um Taleb A. und sein Motiv gibt es viele Fragen, die geklärt werden müssen. Fest steht: Seine Tat passt in kein bekanntes Muster. Die Stadt Magdeburg muss sich Fragen nach dem Sicherheitskonzept des Weihnachtsmarkts gefallen lassen. Für den Anschlag konnte Taleb A. Flucht- und Rettungswege nutzen.

Am Tag nach dem Anschlag war in Magdeburg aber vor allem die Trauer groß. Vor der Johanniskirche ein Blumenmeer. Beim Trauergottesdienst am Samstagabend ist der Dom bis zum letzten Platz gefüllt. Neben der Politprominenz um Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Kanzler Olaf Scholz und Ministerpräsident Reiner Haseloff sind Angehörige der Opfer sowie Einsatz- und Rettungskräfte Gäste des Gottesdienstes. Vor den Toren des Doms verfolgen hunderte die Trauerfeier auf einer Leinwand. Magdeburgs katholischer Bischof Gerhard Feige und der Landesbischof der evangelischen Kirche Mitteldeutschland, Friedrich Kramer, halten gemeinsam die Gedenkfeier ab. Sie sprechen über den »Friedensraum« Weihnachtsmarkt, der zerstört worden sei, und die »Sprach- und Fassungslosigkeit«, die nach dem Anschlag zurückbleibt. In einer Predigt wird auch gewarnt: »Und nun wollen andere Gewalttäter den Thron der Aufmerksamkeit erobern. Sie wollen, dass alles stirbt.«

Es ist eine Warnung vor dem, was zur gleichen Zeit in der Magdeburger Innenstadt stattfindet: ein rechter Aufmarsch mit 2100 Teilnehmer*innen. Schon ab Freitagnacht wurde in rechten Social-Media-Gruppen zu der Demonstration mobilisiert. Auffällig hierbei, die Initiative kam aus Neonazikreisen, aufgegriffen wurde sie aber auch aus dem AfD-Umfeld. Der Verein »Ein Prozent« teilte die Mobilisierungsgrafik genauso wie Benedikt Kaiser, der als Vordenker der Neuen Rechten gilt und für den AfD-Bundestagsabgeordneten Jürgen Pohl arbeitet.

Am Samstagabend auf der Straße dominierte dann die Neonaziszene. Anmelder des Aufmarschs war Alexander Deptolla, der über Jahrzehnte zum Kern der Dortmunder Nazis gehörte, mittlerweile aber in Halberstadt lebt. Die Reden der Rechten machten klar, worum es ihnen ging. Dass Taleb A. mit rechten Islamkritiker*innen und der AfD sympathisiert – völlig egal! Der Vorsitzende der Heimat (früher NPD) erklärte, das »Grundproblem« sei, dass »Menschen, die aus einer fremden Kultur stammen und einer fremden Art angehören« nach Deutschland kommen. Völkischer Rassismus pur! Andere Redner wie Thorsten Heise verwendeten außerdem offene Anspielungen auf den Nationalsozialismus. Auf ein »Deutschland, erwache endlich aus deinem bösen Traum« antwortete die Menge mit einem »Deutschland, erwache!« Die NS-Parole, vermummte Teilnehmer*innen und Übergriffe auf Journalist*innen waren Begleiterscheinungen des Aufmarschs. Die Magdeburger Polizei bilanziert, dass es »vereinzelt zu kleineren Störungen mit einfachen körperlichen Auseinandersetzungen« kam. Ansonsten keine Vorkommnisse.

Waren bei dem Neonaziaufmarsch am Samstagabend nur vereinzelt Symbole der AfD zu sehen, wird dies am Montagabend anders sein. Die AfD lädt zur Großkundgebung mit anschließendem Trauermarsch. Neben zahlreichen Landespolitikern soll auch die AfD-Vorsitzende und Spitzenkandidatin Alice Weidel in Magdeburg reden. Taleb A. hatte im Netz seine Sympathie für Weidel und die AfD kundgetan. Eine große Rolle wird das am Montag wohl nicht spielen. Bei Politiker*innen der AfD ist eine Mehrheit bei der alten NPD-Parole »Migration tötet!« angekommen. Motive und Hintergründe spielen da kaum noch eine Rolle, nur dass der Täter kein Deutscher war.

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