Rassismus führt vors Gericht

Das »Justice Collective« hat 230 Strafprozesse in Berlin beobachtet und systematische Diskriminierung festgestellt

Im »kriminalitätsbelasteten Ort« Görlitzer Park können Polizist*innen Personen ohne konkreten Verdacht kontrollieren.
Im »kriminalitätsbelasteten Ort« Görlitzer Park können Polizist*innen Personen ohne konkreten Verdacht kontrollieren.

Wenn Anthony Obst beim Familienessen gesagt wird, dass die Justiz neutral sei, verweist er auf mehr als 230 Strafprozesse an Berliner Gerichten. Diese hat der Verein »Justice Collective«, bei dem sich Obst engagiert, strategisch beobachtet, um den »weit verbreiteten Mythos« infrage zu stellen, dass die Gerichte gerecht seien, wie der Berliner Verein sagt. Das Ergebnis lautet: Menschen aus rassifizierten und migrantisierten Gruppen werden durch Polizeiarbeit, Kriminalisierung und Bestrafung systematisch von der Justiz benachteiligt. Armut ist dabei ein relevanter Faktor.

»Ein junger, migrantisierter Mann sitzt vier Monate in U-Haft. Er gesteht, eine Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug gestohlen zu haben und wird dafür verurteilt. Der Richter verhängt eine Freiheitsstrafe in Höhe der bereits verbüßten Zeit, wodurch sich offenbar die Möglichkeit einer Haftentschädigung für den Mann erübrigt«, lautet eine der Fallbeschreibungen, die das Justice Collective zu seiner Kampagne »Racism on Trial« auf gleichnamiger Website dokumentiert. Die Kampagne ordnet den Zigarettendiebstahl unter dem Stichwort »Racial Profiling« ein, also wenn Menschen nur aufgrund ihres Erscheinungsbildes oder ethnischer Merkmale polizeilich kontrolliert werden.

»Ein Beispiel dafür ist, dass die Polizei bestimmte Orte verstärkt kontrolliert und bestimmte Menschen häufiger kontrolliert als andere. Besonders trifft das unter anderem Menschen, die von Armut oder Rassismus sowie deren Verschränkung betroffen sind«, sagt Obst gegenüber »nd«. Racial Profiling führe dazu, dass rassifizierte Menschen auch häufiger vor Gericht landen.

Besonders oft kontrolliert wird an sogenannten »kriminalitätsbelasteten Orten« (kbO), die von der Polizei festgelegt werden. In Berlin gibt es sieben dieser auch »Gefahrengebiet« genannten Zonen: am Alexanderplatz in Mitte, im Görlitzer Park mit dem Wrangelkiez und am Kottbusser Tor in Kreuzberg, am Hermannplatz und in der Hermannstraße inklusive des S-Bahnhofs Neukölln in Neukölln, sowie an der Rigaer Straße und der Warschauer Brücke in Friedrichshain.

An diesen Orten hat die Polizei mehr Befugnisse als sonst: verdachtsunabhängig die Identität feststellen, eine Person durchsuchen oder eine Sache durchsuchen – alles abhängig vom Verhalten einer Person. Ob man sich in einem kbO befindet, ist nicht leicht festzustellen, denn welche Gebiete sie genau umfassen, ist geheim. So soll verhindert werden, dass vermeintliche Straftäter*innen, »mit diesem Wissen nur die Straßenseite wechseln und so einer verhaltensabhängigen Kontrolle entgehen«, wie die Polizei schreibt. In der Praxis zeigen zahlreiche Beispiele, dass immer wieder Menschen in Polizeikontrollen landen oder festgenommen werden, denen man lediglich zuschreiben kann, dass sie nicht weiß sind und sich an einem kbO aufhalten.

Die Polizeistatistik lege laut Obst außerdem nahe, dass kleinere Delikte überproportional oft an kbOs festgestellt werden. »Es sollte niemanden wundern, das eben dadurch, dass besonders häufig kontrolliert wird, sich natürlich auch die Auffindung davon häuft.«

Obst vom Justice Collective weist darauf hin, dass die strukturellen Gründe, warum Menschen beispielsweise Drogenhandel betreiben, politisch nicht angegangen werden. »Asylbewerber*innen zum Beispiel dürfen oft nicht arbeiten und ihre staatlichen Leistungen werden gezielt gering gehalten«, sagt er. Obst spricht auch von »politischer Vernachlässigung«: In Kiezen und Bezirken, wo die öffentliche Infrastruktur kaputtgespart werde, wo »Freizeitprogramme gestrichen werden, soziale Angebote fehlen, Schulen überfüllt und Lehrer*innenmangel besonders gehäuft ist«, antworte der Staat mit Repression: »Menschen, die aus Orten kommen, die politisch vernachlässigt sind, werden häufig kriminalisiert«, sagt Obst. Bei ihren Prozessbeobachtungen haben er und seine Mitstreiter*innen außerdem nicht selten beobachtet, dass Dolmetscher*innen fehlten oder »dass es einige Verständigungsprobleme« gab.

Die Prozessbeobachtungen habe das Justice Collective laut Obst durchgeführt, um Daten zur rassistischen Markierung von Menschen zu erheben – denn diese fehlen seitens der Regierung. »Statistisch sind wir auf die Daten zur Staatsangehörigkeit angewiesen, was natürlich nur einen Einblick bietet«, sagt Obst. Er und seine Mitstreiter*innen ziehen ihre Schlussfolgerungen auch aus wissenschaftlichen Studien, wie zuletzt vom Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitor des staatlich geförderten Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM). Obst und dem Justice Collective gehe es in ihrer Feldforschung nicht darum, Vorurteile von Richter*innen zu offenbaren, wenngleich sie diese vor Gericht beobachten konnten. Es gehe ihnen vielmehr darum, dieses Verhalten »als Teil eines Systems zu verstehen, für dessen Funktionsweise Rassismus ausschlaggebend ist«, wie Obst erklärt.

Nicht nur Daten sammeln und Muster erkennen, sondern auch politische Schlüsse will das Justice Collective aus seiner Feldforschung ziehen. »Wir fordern zum Beispiel die komplette Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe oder die komplette Abschaffung von migrationsrechtlichen Konsequenzen von Strafurteilen«, sagt Obst. Außerdem fordern sie eine Änderung der Regelung zur Untersuchungshaft. Die Strafverfolgungsstatistik zeigt, dass 60 Prozent der rund 12 000 Untersuchungshäftlinge in Deutschland dauerhaft Personen ohne Wohnsitz in der Bundesrepublik sind. Dabei beträgt ihr Anteil an den Beschuldigten nur 30 Prozent.

»KbOs abschaffen ist auch eine unserer Forderungen – an diesen Orten wird die Praxis des Racial Profilings legitimiert und führt dazu, dass Leute überhaupt vor Gericht landen«, sagt Obst. Das Justice Collective will außerdem, dass soziale Sparmaßnahmen enden, die besonders migrantisch geprägte Viertel und Menschen treffen.

»Menschen, die aus Orten kommen, die politisch vernachlässigt sind, werden häufig kriminalisiert.«

Anthony Obst
Justice Collective
- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.