Berliner Gefängnisse: Sparpolitik mit strafenden Folgen

Die Gesamt-Interessenvertretung der JVA Tegel kritisiert Kürzungen beim Gefängnistheater

»Die Hermannsschlacht« nach Christian Dietrich Grabbe führte das Theater aufBruch 2022 im Innenhof der JVA Tegel auf.
»Die Hermannsschlacht« nach Christian Dietrich Grabbe führte das Theater aufBruch 2022 im Innenhof der JVA Tegel auf.

Lernen, mit Frust umzugehen. Lernen, die eigenen Bedürfnisse zurückzustellen. Lernen, sich auszudrücken. Diese Fähigkeiten sind unerlässlich, um eine soziale Persönlichkeit zu entwickeln. Wer im Gefängnis sitzt, hat nur wenig Raum zu lernen. Oft sind Angebote der sogenannten Resozialisierung die wenigen Orte, an denen Gefangene begleitet lernen können und Raum haben, kollektiv zu reflektieren. Doch die Kürzungspolitik der schwarz-roten Koalition trifft genau solche Angebote – zum Beispiel das Berliner Gefängnistheater aufBruch.

»Der Weg, den vor allem Sie eingeschlagen haben, führt sukzessive in ein vollzugliches Chaos, das noch frustriertere und gefährlichere Menschen hervorbringt«, heißt es in einem Brief aus dem Gefängnis an die Justizsenatorin Felor Badenberg (CDU). Der Brief wurde am 28. März von Andreas Greiner, Sprecher der Gesamtinteressenvetretung (GIV) der Justizvollzugsanstalt (JVA) Tegel, verfasst. Das Schreiben liegt »nd« exklusiv vor.

Anlass des offenen Briefes an die Justizverwaltung sind Etatkürzungen bei aufBruch, die im Dezember 2024 bekannt wurden. Das Gefängnistheater wird zu zwei Dritteln von der Senatsverwaltung für Justiz und zu einem Drittel von der Senatsverwaltung für Kultur finanziert. Gekürzt wurden die Gelder nur vonseiten der Justizverwaltung – und zwar um 70 Prozent. Damit fehlen dem Projekt plötzlich 142 000 Euro.

»Für uns Inhaftierte der JVA Tegel ist diese Streichung von Mitteln nicht nur fraglich, sondern entzieht sich jeder Logik«, heißt es in dem Schreiben aus der JVA Tegel. »Hier wird nicht nur an der falschen Stelle gespart, sondern wenn man es genau betrachtet, wird mit den Kürzungen bei aufBruch gar nicht gespart«, heißt es weiter. Als Begründung führt GIV-Sprecher Greiner das Einsparen der Haftkosten für Theaterspieler an, die vorzeitig entlassen werden. Ein Hafttag in Berlin kostet die Justiz 230 Euro.

Doch warum werden aufBruch-Schauspieler eher entlassen? Sibylle Arndt ist Produktionsleiterin beim Gefängnistheater. Im Gespräch mit »nd« erklärt sie, wie sich die Mitwirkenden in den Justizvollzugsanstalten persönlich weiterentwickeln, was zu einer früheren Entlassung führen könne. »Ich sehe bei allen Schauspielern, dass sie sozial kompetenter werden«, so Arndt. Denn die Schauspieler müssen Texte lernen und am Ende auch abliefern.

»Sie lernen, mit Frustration umzugehen und darauf nicht mit Gewalt zu reagieren«, berichtet die Produktionsleiterin. »Wer bei uns mitmacht, muss regelmäßig zu uns kommen und auf Dinge wie das gemeinsame Kochen oder nachmittags zum Sport gehen verzichten, weil jeden Tag geprobt wird.« Arndt nennt das aufBruch eine Art »Trainingsprogramm«, das dabei helfe, sich sozial zu integrieren. »Du lernst, deine eigenen Bedürfnisse zurückzustecken, auch wenn es dir mal nicht so gut geht.«

Laut Greiner profitieren auch die zuschauenden Inhaftierten von den dreimonatigen Projekten bei aufBruch. So würden sie motiviert, selbst teilzunehmen oder anderweitig kreativ zu werden. Außerdem trage die Arbeit des Gefängnistheaters wesentlich zum Opferschutz bei, teilt die GIV mit. »Verhaltensänderungen bei tief sitzenden Verhaltensmustern herbeizuführen, ist eine große Herausforderung, wie jeder weiß, der es selbst versucht hat oder dazu gezwungen war.« In dem Theaterprojekt könnten sich die Straffälligen mit ihren kriminogenen Anteilen auseinandersetzen – damit ergänze das Projekt die therapeutische und sozialarbeiterische Strafaufarbeitung.

»Darüber hinaus werden nicht nur die negativen Anteile bewusster gemacht, sondern die positiven für die Teilnehmer erlebbarer. Auf diese Weise finden Menschen zu ihrem Potenzial«, teilt GIV-Sprecher Andreas Greiner mit. »Da erscheint es beinahe zynisch, wenn seitens Ihrer Behörde Aussagen fallen wie ›Eine Spielzeit würde ausreichen‹«, heißt es daher in dem offenen Brief an Badenberg. »Welche Anstalt soll denn dann den Vorzug erhalten?«

Momentan wechselt das aufBruch zwischen den Justizvollzugsanstalten. Derzeit finden Proben zu Shakespeares »Titus Andronicus« in der JVA Tegel statt. Anfang Juni starten die Vorstellungen.

Doch wie wird man eigentlich Schauspieler bei aufBruch? Mittels Aushängen informiert das Theater über die Proben, so Arndt. Auch Sozialarbeiter*innen und das Ensemble vom letzten Jahr werden informiert. Alle Bewerber müssen einen »Vormelder«, eine Art Anschreiben verfassen, das durch die Anstalt geprüft wird. Die Einschätzungen der Gruppenleiter*innen und Sozialarbeiter*innen über die Gefangenen zieht das aufBruch in den Entscheidungsprozess über die Zulassung der Schauspieler ein. Nach einer Testphase und neun Wochen Probenzeit steht dann ein Ensemble: In Tegel sind es derzeit 20 Insassen.

Signale seitens der Justizverwaltung, die Kürzungen zurückzuziehen, gebe es derzeit nicht, so Arndt. »Unsere Strategie ist, erst einmal weiterarbeiten und währenddessen nach Fördergeldern suchen«, sagt sie. Würden sie jetzt aufhören, würden sie ihre Struktur verlieren, müssten Verträge auflösen und Mitarbeitern kündigen. »Das wollen wir nicht«, so Arndt. Wenn die Förderanträge scheitern, müsste aufBruch in der Mitte des Jahres umdisponieren.

»Der zunehmende Drogenkonsum in der Anstalt ist lediglich ein Ausdruck sowieso schon mangelnder Angebote und Betreuung.«

Andreas Greiner 
Gesamtinteressenvertretung der JVA Tegel

Auch 150 Berliner*innen haben einen Appell an den Justizsenat unterzeichnet und fordern, die Kürzungen zurückzunehmen. Unter ihnen sind Kulturschaffende, der ehemalige Anstaltsleiter der JVA Tegel, Kriminolog*innen, Ärzt*innen, Psycholog*innen, Richter*innen. Eine Sprecherin der Justizverwaltung teilt »nd« mit, dass die Kürzungen »ausgesprochen schmerzhaft« seien, aber erbracht werden müssten. Ein Antwortschreiben auf den offenen Brief der GIV vom 28. März befinde »sich im Geschäftsgang«.

Die Verfassung schreibt resozialisierende Maßnahmen im Strafvollzug vor. Andreas Greiner berichtet »nd« jedoch, dass die JVA Tegel diesem Anspruch sukzessive nicht mehr gerecht werde. »Der zunehmende Drogenkonsum in der Anstalt ist lediglich ein Ausdruck sowieso schon mangelnder Angebote und Betreuung«, heißt es im Brief der GIV. »Sie werden Ihrer Verantwortung gegenüber der Gesellschaft nicht gerecht, indem Sie einseitig restriktiv für mehr Sicherheit und Ordnung plädieren, während Sie auf der anderen Seite Behandlungsangebote kürzen und streichen.« Die Sorgen und Ängste der Menschen, die Badenberg mit dieser Politik beruhigen wolle, würden so nur indirekt befeuert und real.

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