Dänischer Kolonialismus: »Einen Weg zur Heilung finden«

Die Kolonisation durch Dänemark hat in Grönland zu einer Kultur des Schweigens geführt, findet die Schamanin Aviaja Rakel Sanimuinaq Kristiansen

  • Interview: Niklas Franzen
  • Lesedauer: 6 Min.
Grönland – Dänischer Kolonialismus: »Einen Weg zur Heilung finden«

Frau Kristiansen, wie sind Sie dazu gekommen, Schamanin zu werden?

Ich war vier Jahre alt. Als ich mit meinem Cousin spielte, stand ich plötzlich auf, schaute meine Mutter an und sagte: »Ich bin eine Schamanin.« Ihre erste Reaktion war ablehnend. Es ist ein gefährlicher Weg, diesen Beruf zu ergreifen. Man muss viele Male sterben – mental und seelisch. Sie wollte mich davor bewahren. Hinzu kommt, dass mein Vater Däne ist. Deshalb glaubte sie nicht, dass ich es schaffen könnte. Also wurde ich nicht in die Lehre eines Schamanen eingeführt.

Aber in Ihrer Familie gab es noch weitere Schamaninnen, richtig?

Ja, meine Mutter wurde von meiner Urgroßmutter unterrichtet, die selbst Schamanin war. Doch sie starb, als meine Mutter erst neun Jahre alt war, und so konnte sie nicht die vollständige Ausbildung erhalten. Damit hatte ich niemanden, der mich lehren konnte.

Welchen Weg gingen Sie stattdessen?

Ich wurde immer kränker. Ich verbrachte 18 Jahre innerhalb des westlichen, kolonial geprägten Heilungsansatzes, insbesondere in der Psychiatrie. Ich wurde stark medikamentös behandelt. Schließlich versuchte ich, mein Leben zu beenden – und es gelang mir. Ich starb und ging nach »Silap Inua«, in die andere Welt. Seitdem versuche ich, meinen Weg zurück ins Leben zu finden, indem ich die westliche Welt hinter mir lasse. Ich änderte meine Lebensanschauung und wandte mich der Natur zu, mit meiner Mutter als Führerin. Sie zeigte mir, was sie noch von ihrer Großmutter wusste. Eines Tages wurde ich initiiert – es wurde mir gesagt, dass ich nun eine Schamanin werde.

Interview

Aviaja Rakel Sanimuinaq Kristiansen stammt aus Ostgrönland und lebt mittlerweile in Grönlands Hauptstadt Nuuk. Dort arbeitet sie als »Angakker«, als Schamanin. In ihrer kleinen Praxis steht ein lederner Liegestuhl, an den Wänden hängen Trommeln aus Robbenhaut und auf dem Boden liegt ein Eisbärenfell.

Wie sieht Ihre Arbeit konkret aus?

Das Besondere an meiner schamanischen Linie ist, dass die Helfer meiner Ahnen zu mir gekommen sind. Das bedeutet, dass ich eine Art »Armee« hinter mir habe, die darin ausgebildet ist, Heilungen durchzuführen. Deshalb habe ich viele Jahre in der Natur verbracht. Während ich das verlernte, was mir über das Leben beigebracht wurde, lehrten sie mich, die Seele als Werkzeug zur Heilung einzusetzen. Das bedeutet im Wesentlichen, zu »nichts« zu werden, damit die Geister in unsere Welt eintreten und die Heilung durchführen können.

Wie würden Sie Ihre Arbeit beschreiben? Passt der Begriff »Therapeutin« zu dem, was Sie tun?

Ich sehe mich eher als Mechanikerin. Denn unsere Seele ist wie eine Maschine. Wenn du ein bestimmtes Problem hast, erkenne ich, welcher Teil der Seele betroffen ist. Das zeigt mir, was in deiner Vergangenheit passiert ist. Um dieses Problem zu beheben, können wir die Unterstützung unserer Ahnen, der Natur oder der Pflanzenwelt hinzuziehen, um die Maschine wieder zum Laufen zu bringen.

Grönland wurde im 18. Jahrhundert kolonisiert. Eine der ersten Maßnahmen der dänischen Kolonisatoren war es, die Macht der Schamanen zu brechen. Warum war das so wichtig?

Wenn man ein Land kolonisiert, muss man gegen diejenigen vorgehen, die Macht haben. Eine der effektivsten Methoden, dies zu tun, ist, die kulturelle Stärke zu zerstören. In unserer Kultur sind unsere Namen mit unserer Seele verbunden. Indem sie uns tauften und unsere Namen in biblische Namen änderten, zwangen sie uns, das loszulassen, was wir waren. Sie ließen uns von vorne anfangen und nach ihren Regeln leben. Das hat uns unsere Identität geraubt. Doch dieses Kapitel wurde unter den Teppich gekehrt, um den Anschein einer glücklichen Kolonie zu wahren.

Sie sind eine der ersten Personen, die wieder den Weg zu alten Traditionen einschlagen. Wie waren die Reaktionen zu Beginn?

Viele machten sich lustig, einige griffen mich auch direkt an. Es machte mir aber nichts aus. Ich verstehe ja, warum. Wir wurden dazu gezwungen, uns zu schämen und unsere Kultur aufzugeben. Meine Familie wurde bestraft, wenn wir unsere schamanischen Methoden praktizierten. Meine Urgroßmutter wurde für die Ausübung unserer Traditionen bestraft, sogar das Essen wurde ihr entzogen. Doch sie praktizierte den Schamanismus versteckt weiter, viele Menschen suchten sie heimlich auf.

Sie haben von den Anfeindungen berichtet, die Sie erlebten, als Sie Ihre Arbeit aufnahmen. Wie haben Sie das empfunden?

2016 war ich im nationalen Fernsehen und sprach darüber, wie ich von meinem Vater missbraucht wurde. Ich habe diese Scham öffentlich gemacht. Durch diese Erfahrung war ich schon durch das Schlimmste gegangen. Im Vergleich dazu war die Kritik an meiner Rolle als Schamanin nichts. Ich bin im Dienst der Geister. Ich tue, was sie von mir verlangen. Und ich weiß, dass viele der Pläne der Ahnen nicht möglich wären, wenn ich nicht täte, was ich tue. Deshalb nehme ich Angriffe nicht persönlich. Gerade bei vielen Älteren ist die Kolonialisierung tief in ihrer Seele verwurzelt.

Und bei der jüngeren Generation?

Die hat eine große Neugier. Sie sehen unsere Kultur nicht als etwas Fremdes oder etwas, das von ihnen entfernt ist. Sie gehen viel offener und freier mit diesem Thema um. Mittlerweile unterrichte ich etwa hundert Menschen in dieser Art der Heilung. Was mich bei meiner Arbeit überrascht, ist, wie viele Psychologen, Ärzte, Krankenschwestern oder Politiker Interesse an dieser Heilung zeigen. Aber sie müssen darüber schweigen. Vieles, was ich tue, geschieht im Verborgenen. Obwohl Menschen aus allen Schichten unserer Gesellschaft durch mich den Geistern begegnen, müssen sie sich schützen.

Warum ist das so? Warum dieses Schweigen?

Es ist die Welt, in der wir leben. Wir leben immer noch nach westlichen Strukturen und Regeln. Es gibt viel interne Unterdrückung, die typisch für koloniale Strukturen ist. Innerhalb indigener Gemeinschaften halten wir uns selbst in Schranken. Und die Kolonialstruktur, insbesondere die Kirche, wurde als Waffe gegen unsere Kultur eingesetzt. Man hat uns beigebracht, dass das, was wir tun, böse sei. Dass es Teufelsanbetung sei. Und ich Seelen in die ewige Verdammnis führe. Solche Ideen hat die Kirche in uns verankert.

Glauben Sie, dass gewisse koloniale Strukturen immer noch in der Gesellschaft wirken?

Ja, definitiv. Die westliche Weltanschauung prägt die Struktur, auf der unser Land aufgebaut ist. Als indigene Menschen müssen wir uns in unserem eigenen Land ständig anpassen. Wenn du zum Beispiel nicht die dänische Sprache sprichst, ist es schwer, eine gute Schulbildung zu erhalten. Dieses Ungleichgewicht ist ein Relikt der Kolonialzeit. Viele Probleme wie Alkoholismus und Suizid sind direkt mit den Wunden der Kolonisation verbunden.

Glauben Sie, dass sich Dänemark seiner kolonialen Vergangenheit ausreichend stellt?

Es gibt definitiv eine Kontrolle über die Erzählung. Wenn man die Kolonisation aus der dänischen Perspektive betrachtet, wird sie oft als weniger brutal dargestellt – fast als etwas, das »zum Besten« der Inuit geschah. Die Dänen sind in der Vorstellung vieler die »guten« Kolonialisten, was die Wahrheit verzerrt. Ich komme aus Ostgrönland, einer Region, die für lange Zeit isoliert war. Ich habe die Auswirkungen der Kolonisation aus erster Hand gesehen – auch durch meinen eigenen Vater, der als Däne die vollständige Kontrolle über alles hatte. Solche Figuren verursachten viel Schaden. Und solche Machtstrukturen haben eine Kultur des Schweigens geschaffen, die bis heute anhält.

Was muss passieren, damit Grönland endlich den Kolonialismus hinter sich lassen kann?

Es gab eine zaghafte Entschuldigung, aber das ist wirklich nur der Anfang. Es geht nicht darum, gegen Dänemark zu kämpfen. Es geht darum, gemeinsam mit ihnen eine Lösung zu finden, einen Weg zur Heilung.

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