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Irrtümer muss man selbst erleben

Worüber es sich nach den Feiertagen nachzudenken lohnt: Zeit, Strahlung und geschenkte Truthähne

Riecht schlecht und trifft man im Alpenraum irgendwo zwischen Donut-Filiale und Sandwich-Laden: Der Krampus
Riecht schlecht und trifft man im Alpenraum irgendwo zwischen Donut-Filiale und Sandwich-Laden: Der Krampus

"Ein schönes neues Jahr« wünscht man sich, während man sich wiederum »fröhliche Weihnachten« schreibt oder zusäuselt. Fröhlich soll man also sein, an Heiligabend – während in Bethlehem buchstäblich die Hölle los ist, so sagte es sogar der Pastor im Basler Münster, es war der übertausendste Weihnachtsgottesdienst und die Kirche vollbesetzt wie die Titanic. Er segnete uns, die Mannschaft, Mensch-schaft, des andächtigen Kreuzfahrtschiffes mit beiden Händen hoch erhoben. Aus der Kirche kommend, rauchte ich eine Zigarette und fiel sofort in Ohnmacht. Als ich leichenbleich vor dem Kircheneingang wieder erwachte, meinte ich, den Segen ein wenig deutlicher zu spüren als zuvor.

In der heidnischen Tradition der Raunächte soll man keine Wäsche waschen, weil sich die bösen Geister dann in ihr verfangen. Vor allem keine weiße Wäsche, weil sie von den Geistern mit Leichentüchern verwechselt werden könnte. Die Raunächte beginnen am kürzesten Tag des Jahres. Das feiert man, vor allem in den Bergen, mit Krampus-Umzügen. Ich begegnete den nach Fell riechenden Ungeheuern vor einer Basler Dunkin’-Donuts-Filiale und folgte ihnen über die Brücke bis zur Subway-Filiale. Dazwischen wurde ich mehrmals von kleinen und großen Krampus-Gestalten eingekreist und ge-sandwicht, manchmal wurde mir mit einem Holzbesen der Hintern versohlt. Ich dachte spontan daran, wie beschämt ich darüber war, einmal an Nikolaus in meinem Stiefel eine Rute zu finden. Auch ein »schönes neues Jahr« zu wünschen, beschämt mich immer ein bisschen.

Zunehmend frage ich mich, ob man die Dinge wieder mehr in Orakelform organisieren könnte: Entscheidungen werden getroffen, indem man ein Rätsel löst.

»Time is what keeps everything from happening all at once« (Zeit verhindert, dass alles gleichzeitig passiert), habe ich irgendwo gelesen und seitdem oft zitiert und es beschäftigt mich noch immer. The past is never dead, it hasn’t even passed yet. But the present is always now, it’s always already gone (Die Vergangenheit ist niemals tot, sie ist noch nicht mal vorbei. Aber die Gegenwart ist immer jetzt, sie ist immer schon geschehen).

Kurz nach Silvester fuhren wir mit dem Auto von Freiburg nach Basel. Mitten auf der Strecke wurde plötzlich der Himmel ganz hell – ein fast biblischer Moment. Wir waren zu dritt im Auto. Ich dachte sofort an die heiligen drei Könige. Den 6. Januar, das Ende der Raunächte, erwarten wir nämlich ungeduldig – die Wäscheberge werden immer höher und die Albträume immer drastischer. Wir fuhren also dem orangefarbenen Licht hinterher. Das war auch die einzige Möglichkeit, denn wir waren auf der Autobahn, direkt an der Grenze zwischen Frankreich, Deutschland und der Schweiz – und irgendwann wurde das Licht zu einer Art Rauch.

Jemand stellte fest, zuerst im Scherz, dass wir gerade an dem stillgelegten Atomkraftwerk Fessenheim vorbeifuhren, eines der ältesten und am schlechtesten gesicherten Atomkraftwerke Europas, das, wie sich später herausstellte, seit 2020 nicht mehr in Betrieb ist. Kurz darauf wurden wir von einer jungen Polizistin an der Grenze angehalten, die fragte, ob wir etwas verzollen wollten – und ich fragte sie spontan, ob es sein könnte, dass das Atomkraftwerk beziehungsweise der dort noch zwischengelagerte Atommüll brennt. Es war beeindruckend, den Schreck in ihren Augen zu sehen. Wahrscheinlich habe ich noch immer eine Art kindliche Vorstellung von Autoritäten, die die Ruhe bewahren und Bescheid wissen.

Das ist nach dem vergangenen Jahr (und Jahrhundert) eigentlich unmöglich – aber es dauert ja immer eine Weile, bis diese Informationen sich somatisiert haben beziehungsweise ins Unbewusste vorgedrungen sind. So eine seltsame Erkenntnis, die ich immer wieder habe: Man muss die Dinge (vor allem die Irrtümer) selbst erleben, damit sie ins Bewusstsein eindringen und sich dort einnisten, Spuren hinterlassen, damit man Konsequenzen aus ihnen ziehen kann. 

Jedenfalls haben wir dann jeweils eine Jodtablette genommen, die ich sowieso gerne nehme, wegen meiner Schilddrüsenunterfunktion, und die, so habe ich dann gestern gelernt, den Baslerinnen anscheinend einmal im Jahr von der Stadt zugeschickt werden; eben aufgrund der unmittelbaren Nähe zu jenem Atomkraftwerk. Und ich habe die ganze Nacht darüber nachgedacht, dass es wirklich unbegreifbar ist, die allgegenwärtige Bedrohung von radioaktiven Stoffen, ganz einfach, weil sie unsichtbar sind. Mein Großvater war Nuklearphysiker und ich habe ein paar seiner Forschungsobjekte geerbt, enigmatische Metallteile, die ich ganz hinten auf meinem Dachboden deponiert habe, weil ich noch immer fürchte, sie könnten mich verstrahlen. Er war wirklich ein unglaublicher Neurotiker und ich fürchte oft, ich habe seine Tendenz geerbt, auch dem Alltäglichsten mit existenziellen Sicherheitsvorkehrungen zu begegnen. Das Symptom hat sich sozusagen ausgehöhlt und vererbt.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist, und versucht es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. Alle Texte auf dasnd.de/hohmann.

Seit diesem Vorkommnis leide ich unter seltsamen Symptomen, die ich natürlich der diffusen Strahlenkrankheit zuordne. Ich befürchte, so nah war ich dem Mindset von Verschwörungstheoretiker*innen noch nie: Ich stellte mir vor, man vertuschte den Atomunfall vor der nichtsahnenden Bevölkerung. Die Autobahn in dieser Nacht war sehr leer gewesen.

Kurz darauf wurden meine Bedenken aber von einer neuen post-feiertäglichen Herausforderung abgelöst: Unser Freund M. hatte uns zum Silvesterdinner einen Turkey (Truthahn) geschenkt, schon zubereitet, den wir am Abend selbst nicht gegessen haben, weil wir bereits 40 Merguez gegrillt hatten. Am nächsten Abend wollte er ihn wieder abholen, um ihn selbst zu essen. Ich war enttäuscht, denn ich hätte den Turkey selbst gern gegessen – und außerdem waren weitere Gäste zu bewirten. Die Geschäfte waren noch geschlossen. Wir diskutierten lange, ob es »appropriate« (angemessen) ist, ein Geschenk zurückzunehmen. Am Ende entschieden wir, M. eine Rätselfrage zu stellen, eine Art Turkey-Prüfung, die er bestehen sollte.

Wir fragten ihn: What are three keys that can’t open doors? A monkey, a donkey, a turkey. Das Ergebnis war für alle Beteiligten unerfreulich. M. nahm den Turkey mit nach Hause, stinksauer und ohne das Rätsel gelöst zu haben.

Dennoch frage ich mich zunehmend, ob man die Dinge wieder mehr in Orakelform organisieren könnte: Entscheidungen werden getroffen, indem man ein Rätsel löst. Eine spirituelle, aber nicht unbedingt religiöse Weltsicht.

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