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Weimars Lieblingsläden: Handwerkskunst im Weltkulturerbe
In Weimar ballt sich die deutsche Geschichte. Ein schönes Gegengewicht dazu sind die vielen kleinen Manufakturen, Laden-Ateliers und inklusiven Cafés
Menschen zum Tragen eines Hutes zu bekehren, ist nicht leicht. Aber wenn es jemandem gelingt, dann Claudia Köcher, die in Weimar ein winziges Atelier für »Hat Couture« betreibt. »Der Hut ist das Kleidungsstück, mit dem man am meisten Eindruck machen kann«, ist die charmante Modistin überzeugt und selbst die beste Botschafterin ihres Kopfschmucks. In ihrem rosa schimmernden Haar funkeln zwei grüne Sternchen, die hintere Kopfhälfte bedeckt eine dunkelblaue Schiebermütze – ein aparter Kontrast zu ihrem graumelierten Schal.
Offensichtlich hat sie aus ihrer Passion ein Geschäftsmodell gemacht. In ihrem Lädchen »Die Zwillingsnadeln« bietet sie ihre Unikate nicht nur zum Verkauf an. Wenn keine Kundschaft da ist, formt sie hier auch selbst Modelle aus Filz über dem elektrischen Hutweiter, arbeitet alte Gänsefedern auf, die ihr mitunter der Fleischerladen von gegenüber spendiert, bestickt Mützen mit Perlen oder Strasssteinen – und hält so ein Handwerk am Leben, das heutzutage nur noch wenige ausüben.
Eine der letzten ihrer Zunft ist auch Annelies Pennewitz, die ein paar Schritte weiter in der Rittergasse ein Fachgeschäft für Schirme und Taschen unterhält. Seit Jahrzehnten stellt sie auch selbst Schirme her und beglückt damit Kunden, die einen individuell gestalteten Regenschutz suchen. Dass die Utensilien ein Stück Alltagskultur darstellen, zeigt ihr kleines, kostenlos zugängliches Schirmmuseum im oberen Stockwerk, wo sich verspielte Exemplare mit Spitze und Volants zu asiatischen Modellen aus Papier gesellen.
Die Liste mit den Lieblingsorten lässt sich von der Website www.weimar.de/tourismus herunterladen. Eine empfehlenswerte Ausstellung in den Wintermonaten widmet sich Caspar David Friedrich unter dem Motto »Friedrich. Goethe. Romantik. Weimar« (bis 2. März 2025, Di–So 9.30–18 Uhr im Schillermuseum). Sehenswert sind außerdem die Ausstellung »Gewalt gegen Weimar – Zerreißproben der frühen Republik 1919–2023« (bis 9. März 2025, Di–So 10–19 Uhr im Haus der Weimarer Republik) und das im Mai 2024 eröffnete Museum Zwangsarbeit im Nationalsozialismus (ganzjährig Di–So 10–18 Uhr).
Alle weiteren Informationen unter:
www.weimar.de
Die beiden Geschäfte sind nur zwei Beispiele für die zahlreichen Laden-Ateliers in Weimars Innenstadt. Wer will, kann auch Isa Schreiber in ihrer offenen Porzellanmanufaktur besuchen, Sybille Richter in der Ringgalerie dabei zusehen, wie sie filigranen Finger- und Ohrenschmuck auf Hochglanz poliert oder Bettina Jörgensen im Keramikatelier »Moccarot« über die Schulter schauen, wenn sie an der Drehscheibe schnörkellose Vasen modelliert. Andere Städte wären froh, wenn sie nur ein paar solcher Adressen vorweisen könnten. Wie ist es möglich, dass in der Goethestadt gleich so viele Frauen den Sprung in die Selbstständigkeit gewagt haben und offensichtlich überleben können?
Zum einen mag es damit zu tun haben, dass die Bauhaus-Universität viele Kreative hervorbringt. Zum anderen gab es zeitweise einen gewissen Leerstand in der Innenstadt. Doch spielen auch Zufälle und persönliche Lebensumstände eine Rolle. »Nach der Wende wusste ich erst mal nicht, wie es weitergehen sollte«, erinnert sich beispielsweise die gelernte Goldschmiedin Jörgensen. So hat sie an ihre Ausbildung ein Architekturstudium angeschlossen, aber als sie Mutter wurde, wieder zu ihrem ursprünglichen Beruf zurückgefunden.
Mit einer winzigen Werkstatt fing es an, vor 20 Jahren hat sie dann den Töpferladen in der Windischenstraße gegründet, der sich gut etabliert hat. »Meist braucht es drei Jahre, bis ein Geschäft läuft«, spricht die Keramikerin aus Erfahrung. Es sind keinesfalls nur Touristen, die bei ihr formschöne Andenken erstehen. Es kommen auch immer wieder Stammkunden auf der Suche nach einem Geschenk herein. Andere wollen ihre Sammlung von Bechern mit minimalistischen Tiermotiven um ein weiteres Exemplar erweitern.
Mit der Zeit wuchs bei den Handwerkerinnen – aber auch bei männlichen Kollegen wie Christian H. Langnickel, der wunderschöne Vögel aus Holz herstellt –, das Bewusstsein, dass sie etwas Besonderes machen, das die Innenstadt entscheidend bereichert. Um das herauszustellen, haben zwei Frauen eine Liste mit ihren persönlichen Lieblingsläden zusammengestellt und entsprechende Faltblätter gedruckt. Mit denen kann man inzwischen 46 ausgesuchte Adressen entdecken. Neben den Manufakturen sind auch Lieblingsorte wie die Kaffeerösterei »Röstbrüder«, das Lichthaus-Kino, die Buchhandlung Eckermann und das Restaurant »Anno 1900« dabei. »So können wir uns gegenseitig unterstützen«, meint Sybille Richter, eine der Initiatorinnen. »Denn wenn zehn überleben, wird es auch für die nächsten 20 einfacher.«
Tatsächlich sind es solche Orte, die eine Stadt lebens- und liebenswert machen. Zumal eine, in der sich so viel deutsche Geschichte zusammenballt. Sensible Gemüter, die nicht nur zielstrebig zu Goethe und Schiller streben, können sich in Weimar schon mal überfordert fühlen. Kommt man zum Beispiel aus dem Bahnhof, empfangen einen als Erstes die Zeitzeugen: überdimensionale Schwarz-Weiß-Fotos von den Gesichtern ehemaliger Häftlinge des KZ Buchenwald, die der Weimarer Fotograf Thomas Müller für ein Fotoprojekt gemacht hat.
Kurz danach passiert man das ehemalige Gauforum mit riesigem Aufmarschplatz, das Hitler 1936 anlegen ließ. Gleich daneben steht das kürzlich eröffnete Museum Zwangsarbeit des Nationalsozialismus. Schnell wird klar: Weimar mutet sich und seinen Besuchern einiges zu. Die Stadt steht eben dazu, dass hier deutsche Geschichte in größtmöglicher Widersprüchlichkeit geschrieben wurde.
Einerseits war da die aufgeklärte Herzogin Anna Amalia, die sich für die Künste, Wissenschaft und Bildung einsetzte und alle möglichen Geistesgrößen um sich versammelte. In den turbulenten Zeiten nach dem Ersten Weltkrieg kamen hier wiederum die führenden Köpfe jener Jahre zusammen, um Deutschlands erste Demokratie auf den Weg zu bringen. Und gleichzeitig ging das Bauhaus mit seinen Ideen für ein völlig neues Zusammenleben an den Start. Andererseits hat das alles die Stadt nicht davor bewahren können, später zum Schauplatz größter Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu werden.
Hat Weimar die Lektionen aus der Geschichte gelernt? Das lässt sich pauschal nicht beantworten. Was aber im Stadtbild auffällt, sind die vielen Banner, mit denen sich Institutionen wie das Nationaltheater, die Hochschule für Musik Franz Liszt, außerdem Apotheken und Restaurants zu einem »weltoffenen Thüringen« bekennen. Hier und da bietet sich ein Begegnungscafé als Anlaufstelle für Geflüchtete an, und das Stadtradio Lotte berichtet regelmäßig von Menschen, die sich in der Stadt engagieren. Nicht zuletzt zeugen auch die Lieblingsläden, die sich erfolgreich gegen eine allzu kommerzielle Innenstadt behaupten, von einer lebendigen Zivilgesellschaft.
Wobei in der Liste eine Adresse fehlt: Es gibt kaum einen angenehmeren Ort zum Lesen und Plaudern als das inklusive Lesecafé »Samocca« im Studienzentrum der Anna-Amalia-Bibliothek. Als Projekt der Diakonie Landgut Holzdorf, der Inclusio Weimar gGmbH und der Klassikstiftung Weimar lädt es zu ausgesuchten Kaffeespezialitäten, Bagels und herzhaftem Gabelfrühstück. Genau der richtige Ort, um die vielfältigen Eindrücke der Goethestadt bei sardischen Gnocchetti und einem Glas Rotwein sacken zu lassen!
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