Wenn der Countdown losgeht

Regisseur Tim Fehlbaum blickt in »September 5« auf das Olympia-Attentat 1972 aus der Sicht der Medien

  • Interview: Susanne Gietl
  • Lesedauer: 6 Min.
Unfassbar: Höchste Anspannung der Sportreporter beim Geiseldrama in München.
Unfassbar: Höchste Anspannung der Sportreporter beim Geiseldrama in München.

Gleich zu Beginn Ihres neuen Films wird erwähnt, dass sogar auf dem Olympiaturm in München eine Kamera positioniert und damit eine allumfassende, mediale Berichterstattung möglich war. Warum haben Sie diesen Einstieg gewählt?

Es waren die ersten Spiele, die global mit optimaler Live-TV-Coverage übertragen wurden. Ein noch nie dagewesener medialer Apparat wurde zur Übertragung der Spiele aufgefahren. Das kommt auch im Prolog vor, weil uns wichtig war, dass wir schon am Anfang ein Gefühl dafür geben. Deutschland wollte ursprünglich ein anderes Image hinaus senden. Es sollten heitere Spiele sein, weil es die ersten Spiele auf deutschem Boden nach ‘36 waren.

Dann passiert eine Geiselnahme durch die Terrororganisation Schwarzer September im israelischen Quartier. Elf Bewohner des Olympischen Dorfes werden ermordet. Nicht das Nachrichtenfernsehen, sondern das Sportfernsehen überträgt das Geschehen live. Wie war das möglich?

Roone Arledge, der gerade die Führung des Sportfernsehens innehatte, war ein visionärer Fernsehmacher. Vor ihm gab es die unausgesprochene Abmachung zwischen den Veranstaltern der Sportstätten und den Fernsehsendern, dass das Publikum zu Hause nie den besseren Platz haben sollte als im Stadion. Das hat Roone Arledge geändert und Sachen wie die On-Field-Camera, Zeitlupen und »reißerische« Titelgestaltung erfunden, die man auch im Film sieht. Die eigene News-Division war damals viel trockener, News wurden nur vom Blatt abgelesen. An dem Tag, als die Geiselnahme passierte, hat sich die Newsberichterstattung geändert, weil Arledges revolutionäre Mittel plötzlich in der Krisenberichterstattung angewandt wurden.

Bild und Ton sind von großer Bedeutung. Entweder hört man zuerst den Ton und sieht erst später ein Bild, oder es gibt zum Ton kein passendes Bild. Alternativ ist das Bild so undeutlich, dass man kaum etwas darauf erkennen kann. Zum Beispiel wird nicht der Flughafen gezeigt, wo ein Schusswechsel stattfindet, sondern nur ein fernes Leuchten, was die Situation sehr gut beschreibt. Stand das von Anfang an fest, dass Sie so vorgehen möchten?

Das haben wir uns sehr früh konzeptuell überlegt. Es geht nicht nur darum, was man sieht, sondern, was man eben (noch) nicht sieht. Wie wollten streng in diesem hermetisch abgeschlossenen Raum mit den Monitoren als einziges Fenster zur Außenwelt bleiben und mit einem authentischen Blickwinkel arbeiten. Wir wollten nichts zeigen, was die TV-Crew nicht sehen konnte. Auch der Wissenstand orientiert sich an ihnen.

So ist man mittendrin im Rausch der Live-Berichterstattung…

Ja! Zur Recherche war ich in Kontrollräumen von Sportübertragungen in Deutschland und Amerika. Selbst wenn ein normales Fußballspiel oder ein Lakers-Game gecovert wird, ist es aufregend. Wenn der Countdown losgeht, bis es live geht und wenn es live geht. Was da für eine Energie entsteht, das ist einzigartig. Als wir mit dem echten Geoffrey Mason gesprochen haben, habe ich ihn gefragt, wie das für ihn damals war. Die Crew hatte gar keine Zeit, über die größeren, auch moralischen Fragen nachzudenken. In dem Moment konnten sie einfach nur reagieren. Die Reflexionen kamen erst danach.

Geoffrey Mason macht keinen Unterschied zwischen Sport- und Nachrichtenberichterstattung. Der Einsatzleiter Marvin Bader nimmt ihn zur Seite und sagt zu ihm: »Schalte mal einen Gang runter. Das ist ein anderes Thema!«

Das kommt noch dazu, dass es in dem Fall keine ausgebildeten Nachrichtenleute waren, sondern tatsächlich Sports-TV-Leute, die plötzlich damit konfrontiert wurden: »Was machen wir, wenn es zu einer Gewalttat kommt?« Das muss man sich immer vor Augen halten, was für ein Präzedenzfall es war! Auch für die Polizei! Sie hatten nicht mal eine Spezialeinheit, weil sie ihre Präsenz für die Spiele möglichst gering gehalten hatten.

Es war das erste Mal, dass der Terror live ging, danach gab es immer wieder Ereignisse, die medial passiert sind – wie zum Beispiel am 11. September 2001. Wie hat die Arbeit an »September 5« Ihre Sicht auf das mediale Gewissen verändert?

Auf eine gewisse Art ist mein Respekt vor den Leuten gewachsen, die Newsberichterstattung machen. Interessanterweise sind heute die größeren Fragen im Newsbereich immer noch genau die gleichen: Wie viele Quellen hat man? Können wir senden oder können wir es noch nicht senden? Was zeigen wir, was zeigen wir nicht? Bei der Falschmeldung, dass alle am Flughafen wohlauf sind, möchte ich der ABC keinen Vorwurf machen, dass sie das damals so gesendet haben, weil es wirklich eine offizielle Meldung war. Die Lage war kompliziert und schlecht durchschaubar.

Vor allem darf man nicht vergessen, dass die Medienberichterstattung sehr lang dauerte. Über 20 Stunden haben Personen wie Geoffrey Mason durchgearbeitet oder die Übersetzerin Marianne Gebhardt…

… die es eigentlich als Figur gar nicht gibt. Wir haben alles auf 90 Minuten verdichtet. Da muss man sich gewisse künstlerische Freiheiten nehmen, damit der Film fürs Publikum besser funktioniert. Auch bei Geoffrey Mason haben wir mehrere Funktionen in einer Figur vereint.

Wie liefen die Dreharbeiten ab?

Wir haben circa 90 Stunden gedreht und jede Szene mit dem Vorsatz durchlaufen lassen, dass man alles aus diesem einen Take zusammenschneiden könnte. Im Prinzip haben wir einfach die Momente, so wie wir uns gedacht haben, dass sie im Kontrollraum passiert sein müssten, nachgespielt. Die Telefonate sind während der Dreharbeiten wirklich passiert, die Bilder wurden wirklich zugespielt. Dadurch hat man ein dokumentarisches Gefühl.

Ikonisch ist das Bild eines maskierten Mannes auf dem Balkon, das Sie übernommen haben. Wie sind Sie mit den Opfern umgegangen?

Wir wollten keines der echten Opfer zeigen. Deshalb haben wir gewisse Szenen im olympischen Dorf auch aus Pietätsgründen nachgestellt. Uns war immer klar, was wir nicht nachstellen können und wollen: Das menschliche Element nämlich das Gesicht von Jim McKay, der 1972 die Olympischen Spiele moderiert hat. Also wollten wir das Original-Material unbedingt lizenzieren und seine Moderation verwenden. Das war sehr kompliziert, aber dann haben wir zum Glück den Segen von Jim McKays Sohn, Sean McManus bekommen. Das hat uns sicherlich dabei geholfen.

Obwohl Sie sehr viel Originalmaterial verwenden, fühlt sich »September 5« wahnsinnig aktuell an. Man ist im Jetzt!

Tatsächlich war das genau unsere Intention. Einerseits sollte es sich fürs Publikum fast so anfühlen, als würden wir diese Crew in dem Raum beobachten – fast so, als wären wir selber die ganze Zeit mit der Kamera live. Andererseits wollten wir auch, dass sich die alten Gerätschaften modern anfühlen, weil ABC zum Beispiel mit der Zeitlupenmaschine die allerneueste Technologie auf dem ganzen Lot hatte. Es war uns wichtig, dass die Original-Gerätschaften und die Abläufe möglichst akkurat dargestellt werden. Denn in unserem Film geht es auch um den Einfluss der technologischen Entwicklungen auf die Medien, die damit unsere Wahrnehmung weltpolitischer Ereignisse verändern. Zudem haben wir getestet, wie sich Originalmaterial aus den 70er Jahren in diesen Räumen auf Film verhalten würde, um dann unseren Look entsprechend anzupassen.

Inwiefern?

Filme wurden damals anders gedreht und mit einer ganz anderen Frequenz geschnitten und auch die Musik, die von uns kommt, sollte eher wie von heute wirken. Mit der Musik wollten wir uns dem Thema möglichst unterordnen und keinen 70er Jahre-Hauch kreieren. Dennoch hat das Material diesen für die 70er typischen körnigen, verwaschenen Look – aber von der Art, wie wir es filmen, fühlt es sich modern an. 

Interview

Tim Fehlbaum, geboren 1982 in Basel, studierte von 2002 bis 2009 Regie an der Hochschule für Fernsehen und Film München. Sein Spielfilmdebüt »Hell« drehte er 2011 und gewann gleich mehrere Preise damit. Ebenso sein Endzeit-Thriller »Tides«, der 2021 auf der Berlinale Premiere feierte; der Film wurde mit vier Deutschen Filmpreisen sowie zwei Bayerischen ausgezeichnet. Sein neuer Film »September 5« war für die Golden Globes 2025 nominiert.

»September 5«. Deutschland/ USA 2024. Regie: Tim Fehlbaum, Drehbuch: Moritz Binder, Tim Fehlbaum. Mit: Peter Sarsgaard, John Magaro, Ben Chaplin, Leonie Benesch. 95 Min. Kinostart: 9. Januar.

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