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Grüne in Pankow: Gelbhaar wird abgesägt
Grüne in Pankow sägen Bundestagsabgeordneten Stefan Gelbhaar nach Belästigungsvorwürfen ab
Der grüne Bundestagsabgeordnete Stefan Gelbhaar wird in Pankow nicht um das Direktmandat für den Bundestag kämpfen können. Bei einer Wahlversammlung des Grünen-Kreisverbands am Mittwochabend konnte er sich nicht gegen Julia Schneider, die Mitglied im Berliner Abgeordnetenhaus ist, durchsetzen. Bei der Abstimmung erhielt Schneider 269 Stimmen, Gelbhaar dagegen 127 Stimmen. Bei einem anschließenden zweiten Wahlgang, zu dem nur noch Schneider antrat, wurde die Entscheidung mit großer Mehrheit bestätigt.
Bei der Wahlversammlung in einer Kleinkunstbühne in Prenzlauer Berg war es zuvor zu einem enormen Andrang gekommen. Schon zehn Minuten vor Beginn der Veranstaltung waren alle Sitzplätze besetzt und nachkommende Delegierte mussten die Versammlung teils im Stehen verfolgen, nicht stimmberechtigte Gäste mussten abgewiesen werden. Selbst in der Presseecke wurden die Sitzplätze knapp, sodass einige Journalisten auf der Fensterbank Platz nehmen mussten. Die Kreisvorsitzende Maren Bergschneider sprach von der »größten Versammlung, die der Kreisverband Pankow je gesehen hat«.
Woher kam das Interesse an der regionalen Nominierungsveranstaltung? Bergschneider sprach in ihrer Eröffnungsrede von dem »Elefanten im Raum«: Gegen Stefan Gelbhaar waren zuletzt massive Belästigungsvorwürfe erhoben worden. Mehrere Frauen hatten Gelbhaar über die Ombudsstelle der Grünen beschuldigt, sich ihnen gegenüber anzüglich oder übergriffig verhalten zu haben. Ein Teil der Frauen versicherte diese Vorwürfe gegenüber dem RBB eidesstattlich. Nach Bekanntwerden der Anschuldigungen im Dezember verzichtete Gelbhaar zunächst auf einen sicheren Platz auf der Landesliste, später forderten ihn Landes- und Kreisvorstand zum Verzicht auf seine Direktkandidatur im Wahlkreis Pankow auf.
Gelbhaar, der sich im Bundestag vor allem als Verkehrspolitiker profiliert hat, stritt die Vorwürfe in seiner Bewerbungsrede vehement ab. »Es gibt Behauptungen, die gelogen sind«, sagte er. Er sei daher »erfolgreich« juristisch gegen die Behauptungen vorgegangen. Damit spielte Gelbhaar darauf an, dass er zuletzt der »Bild« gerichtlich untersagen ließ, zu verbreiten, dass er einer Frau K.-o.-Tropfen verabreicht habe. Auf seiner Webseite und in einem Interview mit dem »Business Insider« hatte Gelbhaar zuvor erklärt, er könne für die betroffenen Zeiträume nachweisen, dass er sich teils gar nicht an den genannten Orten aufgehalten habe. Dies hätten Zeugen eidesstattlich versichert.
»Mir wurde signalisiert, dass ich mich nicht immer in meiner Rolle adäquat verhalten habe«, sagte Gelbhaar allerdings auch. Daher nehme er inzwischen »professionelle Hilfe« an. Die konkreten Vorwürfe seien allerdings trotzdem nicht korrekt, so Gelbhaar.
»Es gibt Behauptungen, die gelogen sind.«
Stefan Gelbhaar (Grüne) Bundestagsabgeordneter
Gelbhaars Konkurrentin Julia Schneider griff die Vorwürfe in ihrer Rede nur knapp auf. »Statt über Inhalte zu sprechen, sind wir aktuell aus anderen Gründen in den Medien«, sagte sie. »Ich kandidiere, damit wir uns wieder auf das Wesentliche konzentrieren können.« Die Partei solle ein Schutzraum für Frauen sein. Im Bundestag wolle sie sich vor allem für Klimapolitik einsetzen.
Nachdem sich Schneider im ersten Wahlgang durchsetzen konnte, zog der sichtlich betrübte Gelbhaar seine Kandidatur zurück. »Das ist Demokratie«, sagte er und wünschte seiner Nachfolgerin viel Erfolg bei der Bundestagswahl im Februar.
Gelbhaar hatte den Wahlkreis Pankow 2021 mit etwa neun Prozent Vorsprung gegenüber einem CDU-Bewerber direkt gewonnen. Zuvor war der Wahlkreis seit 2009 konstant von der Linkspartei geholt worden. Auch bei der anstehenden Bundestagswahl stehen die Chancen gut, dass sich die Grünen erneut durchsetzen. Die Debatte um die Vorwürfe gegen Gelbhaar wirft nun allerdings einen Schatten auf den Wahlkampf.
Auch wenn nach der Abstimmung versucht wurde, Einigkeit zu demonstrieren, dürfte das Wahlchaos Spuren im größten ostdeutschen Kreisverband der Grünen hinterlassen. So erhielt Gelbhaar nicht nur trotz der Vorwürfe ein durchaus respektables Wahlergebnis, nach seiner Rede bekam er auch überraschend viel Applaus. Neben zahlreichen Delegierten klatschte auch mindestens ein Mitglied der Grünen-Fraktion im Abgeordnetenhaus kräftig. Auf den Gängen und vor dem Tagungsraum raunten – ausschließlich männliche – Delegierte über eine »Kampagne«, die vom linken Flügel gefahren werde.
Eine solche Intrige ist allerdings eher unwahrscheinlich. Denn auf den Parteirechten Gelbhaar folgt mit Julia Schneider ebenfalls eine Angehörige des Realo-Flügels. Dem Parteilinken Andreas Audretsch blieb nach Gelbhaars Verzicht zwar ein Kampf um den sicheren Landeslistenplatz zwei erspart. Aber er hätte sich auf dem von Fundi-Grünen dominierten Landesparteitag im Dezember wohl ohnehin durchgesetzt.
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