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Nahost: »Ohne Wiedergutmachung werden die Gräuel weitergehen«
Rachel Beitarie von der israelischen NGO Zochrot kritisiert den Förderstopp des Auswärtigen Amtes
Die deutsche Finanzierung ihres Projekts Zochrot wurde gestrichen. Hat Sie das überrascht?
Nicht wirklich. Jetzt gibt es viel Empörung und auch ein großes Medieninteresse, das schätze ich. Was mich aber irritiert, ist, dass die palästinensischen Organisationen, denen schon vor längerer Zeit das Geld gestrichen wurde, kaum Beachtung finden. Hier zeigt sich die Ungleichbehandlung in der öffentlichen Debatte. Auch Al-Haq, einer palästinensischen Menschenrechtsorganisation, wurden die Mittel gestrichen – und das, obwohl alle Vorwürfe der israelischen Regierung gegen Al-Haq von Deutschland selbst und der EU zurückgewiesen wurden. Dieser Prozess läuft also schon lange. Überrascht war ich also nicht.
Deutschland rühmt sich selbst oft als Erinnerungsweltmeister, dreht nun aber den Geldhahn für ein Projekt zu, das genau der Erinnerung dient. Wie blicken Sie auf diese Gleichzeitigkeit?
Damit wird die Wiedergutmachung von der Erinnerung getrennt. Es kann aber kein Erinnern ohne Konsequenzen, ohne Aufarbeitung und Entschädigung geben. Ich weiß, dass viele Deutsche sehr stolz auf ihre Gedenkprojekte sind, und sie sind in der Tat sehr beeindruckend. Aber sie sind entstanden, nachdem das Regime, das die Verbrechen begangen hat, beseitigt wurde, nachdem wesentliche Schritte in Richtung Entschädigung, juristische Aufarbeitung und Veränderungen im Bildungssystem getan wurden. Lasst uns also darüber sprechen, wie Wiedergutmachung aussehen sollte. Wir von Zochrot sagen, die Wiedergutmachung heißt, dass alle Vertriebenen und Geflohenen zurückkehren können – aber darüber lässt sich streiten. Die Streichung der Mittel verhindert genau diese Diskussion.
Rachel Beitarie leitet die israelische NGO Zochrot, die sich seit 2002 dafür einsetzt, in der jüdischen Öffentlichkeit Israels die Verantwortlichkeit für die Nakba, also die Vertreibung der Palästinenser seit 1948, und die Umsetzung des Rechts auf Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge zu fördern. Beitarie hat einen Bachelor of Law der Universität Tel Aviv und ist als feministische politische Aktivistin tätig. Sie ist Mitbegründerin von PSee, einer unabhängigen feministischen Medienorganisation und arbeitete als Medienkoordinatorin bei Gisha – Legal Center for Freedom of Movement. Davor berichtete sie als Journalistin aus Peking über Menschenrechte und Politik in China. Rachel lebt derzeit in Jaffa.
Wie wurde der Förderstopp vom Auswärtigen Amt begründet?
Uns gegenüber gar nicht. Wir haben die Nachricht über unsere Partnerorganisation Kurve Wustrow erhalten. Eine offizielle Begründung gab es nicht. Dass das Auswärtige Amt die Finanzierung überdenkt, wussten wir allerdings schon seit Anfang letzten Jahres.
Als Zochrot arbeiten Sie zur Nakba, der systematischen Vertreibung der Palästinenser*innen im Zuge der Staatsgründung 1948, und zum Recht auf Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge. Warum ist das Erinnern solch ein heikles Thema?
Man hat uns immer wieder gesagt: Gedenken ist schön und gut, aber nur so lange es nichts Grundlegendes verändert. Deshalb werden wir gerade für unseren Einsatz für das Recht auf Rückkehr angegriffen. Für mich ist das ein grundlegendes Menschenrecht. Menschen, die durch einen Krieg vertrieben werden, haben das Recht zurückzukehren. Es ist auch ein zentraler Bestandteil des palästinensischen Kampfes für Freiheit und Unabhängigkeit und war Thema aller Verhandlungen zwischen Palästinensern und Israelis. Man muss nicht mit mir oder Zochrot darin übereinstimmen, dass das Recht auf Rückkehr für alle Palästinenser*innen, die zurückkehren wollen, umgesetzt wird, aber wir sollten es zumindest diskutieren. Ich verstehe, warum es den Leuten Angst macht, denn es wird Israel verändern – zum Besseren, wie ich glaube.
Das Gedenken an die Nakba und das Recht auf Rückkehr gehören also zusammen?
Es ist absurd, wie manche Menschen der Nakba gedenken, doch nicht in Anerkennung der systematischen Gewalt, sondern aus reinem Mitgefühl mit den Opfern. Natürlich ist es ehrenwert, Mitgefühl zu haben. Aber es waren politische Handlungen, die die heutige Realität geschaffen haben. Der Gazastreifen ist eine Schöpfung der Nakba, er entstand zeitgleich mit dem Staat Israel. Er wurde vom restlichen Palästina abgetrennt, eingezäunt und mit palästinensischen Vertriebenen aus anderen Orten gefüllt, die ethnisch gesäubert wurden, aus Jaffa, aus Lod, aus Be’er Scheva. Mehr als 70 Prozent der Bevölkerung in Gaza sind Flüchtlinge und deren Nachkommen. Diese Tatsachen müssen wir anerkennen, um überhaupt zu verstehen, was in all den Jahren in Gaza geschehen ist: Bombardierung, Belagerung und jetzt Völkermord. Wer das nicht versteht, ist natürlich überrascht, dass dieser historische Prozess zu Gewalt führt, dass er dazu beiträgt, dass eine militante Organisation wie die Hamas entsteht.
Hat der 7. Oktober und der Krieg gegen Gaza die Erinnerung an die Nakba verändert?
In den Jahren vor dem Anschlag der Hamas am 7. Oktober wurde der Konflikt innerhalb des Peacecamps zunehmend als Folge der Nakba von 1948 und nicht nur der Besatzung von 1967 anerkannt. Natürlich war der 7. Oktober ein großer Schock. Menschen, die vorher offen für Veränderung waren, wollen Worte wie »Frieden«, »Palästinenser« oder Menschenrechte nun nicht mehr hören. Unsere Stimme wird heute mehr denn je an den Rand gedrängt und die israelische Gesellschaft ist stark nach rechts gerückt. Das müssen wir wieder ändern, ohne zum Status quo vor dem 7. Oktober zurückzukehren. Ohne Wiedergutmachung werden die Gräuel weitergehen.
Vor uns liegen schwierige Zeiten. Umso wichtiger ist es, eine Vision von einem Leben in Sicherheit und Verbundenheit zu entwickeln, gemeinsam und nicht auf Kosten der anderen. Es gibt nicht entweder Israel oder Palästina, nicht entweder jüdisch oder arabisch. Jeder gehört hierher. Dieser Weg ist nach diesem schrecklichen Jahr und all den Verbrechen noch viel schwieriger als davor. Doch wir haben auch schon an anderen Orten gesehen, dass Versöhnung möglich ist.
Sie haben jüngst gesagt, dass die Räume für zivilgesellschaftliche Organisationen immer kleiner werden. Trifft die Repression Israelis und Palästinenser*innen gleichermaßen?
Die Repression ist zwar flächendeckend, aber sie trifft Palästinenser*innen ungleich stärker als jüdische Israelis. Das ist die Struktur des Apartheidregimes. Unter dieser Regierung ist die Repression gegen Palästinenser*innen zwar extrem, aber es gab sie unter allen israelischen Regierungen. Organisationen im Westjordanland wurden des Terrorismus beschuldigt und gänzlich verboten. Einer israelisch-jüdischen Organisation ist das noch nicht passiert – aber man weiß ja nie. Aber auch individuell: Israelische Aktivist*innen erleben Polizeigewalt nur, wenn sie auf eine Demo gehen. Palästinenser*innen dagegen wurden seit Oktober 2023 zu Hunderten grundlos verhaftet.
Kam der Druck für den Förderstopp ursprünglich von der israelischen oder der deutschen Regierung?
Ich habe keine Ahnung. Das müssen Sie die deutsche Regierung selbst fragen. Was ich seltsam finde, ist, dass sie selbst, genau wie viele andere EU-Regierungen, im Laufe der letzten Jahre ihre Besorgnis über den schrumpfenden demokratischen Raum in Israel geäußert hat. Es stimmt, dass der Staat immer repressiver wird. Aber mit der Einstellung dieser Förderung trägt Deutschland selbst dazu bei, dass unser demokratischer Raum in Israel schrumpft. Die deutschen Beamten vermittelten uns immer wieder, dass es für Deutschland aufgrund der eigenen Geschichte wichtig sei, an der Seite Israels zu stehen. Doch bedeutet das, für die Sicherheit und das Wohl aller Menschen in Israel einzustehen, von denen 20 Prozent Palästinenser*innen sind und sich viele, wie ich, gegen die Regierung stellen? Oder bedeutet es die Unterstützung für die Politik der israelischen Regierung, egal welche Verbrechen sie begeht? Deutschland entscheidet sich ganz klar für die zweite Option.
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