Christoph Marthaler: »In die Luft sprengen, den ganzen Dreck!«

Wie wollen wir wohnen? Christoph Marthaler bringt am Theater Basel die Beethoven-Reminiszenz »Tiefer Graben 8« heraus

  • Berthold Seliger
  • Lesedauer: 6 Min.
Wohnen Sie hier? Das beschädigte Leben der Hausbewohner in »Tiefer Graben 8«
Wohnen Sie hier? Das beschädigte Leben der Hausbewohner in »Tiefer Graben 8«

Stellen Sie sich vor, auf den Postern eines der großen Stadionkonzerte von Taylor Swift würde der Hinweis stehen, dass die Tickets in der Woche vor dem Konzert bei Frau Swift in ihrem New Yorker Penthouse im Adelicia Complex gekauft werden könnten. Völlig unglaublich, nicht wahr? Nicht einmal Newcomer-Bands verkaufen heute ihre Tickets selbst, es ist Teil der industriellen Vermarktung von Kultur, dass es für jede dazugehörige und erst recht für jede Profit versprechende Dienstleistung Konzerne gibt, also auch für den Ticketverkauf.

Ein bei Weitem bedeutenderer, ungleich genialerer Musiker als Taylor Swift dagegen, nämlich Ludwig van Beethoven, musste sich in den Tagen vor dem vermutlich wichtigsten Konzert seiner Karriere, einer »großen musikalischen Akademie zu seinem Vortheile« im April 1800, um den Ticketverkauf selber kümmern: »Billets« waren damals laut Konzertplakat »bei Herrn van Beethoven, in dessen Wohnung im tiefen Graben Nro. 241 im 3ten Stock zu haben«. Da haben wir diese Adresse, »Tiefer Graben«, das erste Mal. 15 Jahre später, der Meister war in der Zwischenzeit etliche Male umgezogen, lebte Beethoven von 1815 bis 1817 wieder im Tiefen Graben, jetzt in Nummer 8. Diese Anschrift hat dem neuen Stück von Christoph Marthaler am Theater Basel den Titel gegeben.

»Tiefer Graben 8« ist allerdings kein Beethoven-Stück, kein biografischer Abend. Beethoven spielt nicht mit. Wenn überhaupt, beschäftigt sich Marthaler mit dem Kosmos Beethovens, mit Aspekten von dessen Persönlichkeit, mit seiner Arbeitsweise, mit seinen Zweifeln, seiner Wut, vor allem aber: mit seiner Heimatlosigkeit, mit Beethovens quasi notorischer Unbehaustheit. »Ein Wohnsitz mit Musik von Ludwig van Beethoven« ist der Untertitel.

Marthaler schlägt den Bogen zu einem der großen Themen unserer Zeit: dem Wohnen, dem Zusammenleben in der heutigen Gesellschaft. Er bewegt sich elegant auf dem Terrain des Philosophen Vilém Flusser, der auch im Programmheft zitiert wird über die Gegensätzlichkeit von Heimat und Wohnung: »Man hält die Heimat für den relativ permanenten, die Wohnung für den auswechselbaren, übersiedelbaren Standort. Das Gegenteil ist richtig: Man kann die Heimat auswechseln oder keine haben, aber man muss immer, gleichgültig wo, wohnen. Denn ohne Wohnung kommt man buchstäblich um.«

nd.DieWoche – unser wöchentlicher Newsletter

Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.

Schon der abwechslungsreiche Bühnenraum von Anna Viebrock ist alles andere als historisierend: Wir sehen ein etwas heruntergekommenes, abgewohntes älteres Wohnhaus, rechts eine Art Kantine oder Arbeiterkneipe mit simplen Resopalmöbeln, dahinter blicken wir in ein Schlafzimmer mit Doppelbett; in der Mitte zwei Türen, die vielleicht zu einer anderen Wohnung, vielleicht aber auch zu einem Treppenhaus oder einem Abort führen. Links eine Art Wohnzimmer mit drei Klavieren, deren mittleres mehr als ramponiert scheint, mit seiner welligen Tastatur. Die Bühne erlaubt Blicke von außen wie von innen: Blicke aus dem Fenster, aber auch solche hinein auf das vereinsamte Sein der Figuren in ihrem beschädigten Leben. Manchmal wird der Wohnraum verschoben, meistens aber seine Bewohner*innen oder jedenfalls die Anwesenden, denn so genau weiß man nicht, wo das Personal des Stücks hingehört.

»Wohnen Sie hier?« ist eine Frage, die sich ebenso wie »Kommen Sie bitte in 20 Minuten wieder!« als retardierendes Moment durchs gesamte Stück zieht. »Wohnen Sie hier?« Was für eine Frage! Wo wir wohnen, hängt heute für viele wieder am seidenen Faden, gesponnen von finanziellen und politischen Verhältnissen. Wer jetzt keine Wohnung hat, findet wohl keine mehr.

Vor allem aber hören wir immer wieder die auf zwei Sprecher verteilte Weisheit der Marke Binse: »Was sein muss, muss sein.« »Und was nicht sein muss?« »Muss erst recht sein.« Diesen Dialog (wie auch etliche weitere Textstellen der Aufführung) hat Heimito von Doderer (1896–1966) geschrieben, auch er gequält von den materiellen und inneren Fragen seiner Existenz, angewidert vom ständigen »Herumrühren im eigenen Dreck«. Und er bezieht sich natürlich auf Beethovens letztes Streichquartett op. 135 mit der dort aufgeworfenen Frage »Muss es sein?«, die unter dem Titel »Der schwer gefasste Entschluss« nach einigen Zweifeln in einem handlungsfrohen Allegro vehement beantwortet wird: »Es muss sein.«

Doch was genau muss sein? Die recht desolate Gruppe von Hausbewohner*innen, deren Psychogramm Marthaler zeichnet, sind Verlierer der Gesellschaft, wie man so sagt. Sie können vermutlich froh sein, noch gerade so »behaust« zu sein. »Die Wohnung ist die Grundlage eines jeden Bewusstseins, weil sie erlaubt, die Welt wahrzunehmen«, schreibt Flusser – aber wenn Menschen um ihre Wohnung kämpfen müssen, wenn diese von Profitinteressen oder »Eigenbedarf« der Vermietenden abhängt, wie viel Bewusstsein jenseits der Angst um den Wohnraum können die Menschen dann noch entwickeln?

Eine der zentralen Figuren des Stücks ist eine ältere Frau im Schürzenkleid, Frau Ida (beeindruckend: Nikola Weisse), die durch die Räume schlufft, mit allen irgendwie redet und doch wieder nicht, einmal am kaputten Klavier ein paar schräge Töne erzeugt. Und dann singt sie plötzlich, eine Zigarette rauchend, wundersam schief und doch oder gerade deshalb traumschön Beethovens Klavierlied »Ich liebe dich«. Eine Vision aus einem anderen Leben. Es ist einzig die Musik, die für die traurigen Gestalten im Haus »Tiefer Graben 8« und für uns, das Publikum, noch Trost bereithält.

Alle Musikstücke dieser Aufführung sind von Beethoven komponiert oder doch zumindest geschrieben. Denn neben originalen und bearbeiteten, gerne verfremdeten Kompositionen hat der Komponist Johannes Harneit auch einige Skizzen und Marginalien Beethovens belebt, die so zum ersten Mal zu hören sein dürften, vor allem solche zu Werken, die nie vollendet wurden. Es sind eher musikalische Gedanken, hingeworfene Fragmente, die in ihrer Kürze und Skizzenhaftigkeit mitunter an Werke von Anton Webern erinnern.

Doch jenseits dieser Skizzen wurden auch vollendete Werke Beethovens bearbeitet, darunter auch Scheußlichkeiten wie die für die Eröffnung des Wiener Kongresses geschriebene Kantate »Der glorreiche Augenblick« mit seinem Eröffnungschor »Europa steht!«, der heute eher zynisch oder lächerlich wirkt und vom Chor mit einer großen Lachsalve beantwortet wird, oder die pathetische »Siegessymphonie« aus »Egmont«. Göttlich, wie der den Rambausek gebende Magne Håvard Brekke geradezu valentinesk eine jazzige Bassfigur auf seinem wie eine Art Riesentuba aussehenden Instrument spielt und dies unmittelbar nach Ende des üblen Triumphstücks weiter fortsetzt, als sei nichts geschehen. Kerstin Avemo als Rufina entgegnet irgendwann mit ihrem schönen Sopran: »In die Luft sprengen, den ganzen Dreck!«

Immer wieder gelingen Marthaler und seinem spielfreudigen Ensemble herrliche Momente: zum Beispiel, wenn der Chor des Theaters auf die Paukenschläge aus dem ersten Satz von Beethovens Violinkonzert gesungen mit der eigentlich der Geige zugedachten Melodie antwortet. Oder die Volkslieder, die Beethoven bearbeitet hat, und die Orchesterstücke, bei denen Sylvain Cambreling das Sinfonieorchester Basel leuchten lässt. Ganz besonders gilt das natürlich für Kyrie und Agnus Dei aus der »Missa Solemnis«, die Chor und Orchester gegen das Elend des Daseins der Gestalten dieses Stücks setzen. Ein bisschen Hoffnung besteht eben doch, »Dona nobis pacem« mit dem Zitat aus Händels »Halleluja«, Frieden für die Welt, also auch und gerade für die Unbehausten, die Einsamen, die Unglücklichen.

Marthalers »Tiefer Graben 8« ist ein melancholisches, in Teilen todtrauriges, mitunter auch komisches Stück. Es zeigt Menschen, die verstrickt sind in Fragen des Wohnens, Liebens und Glaubens, die versuchen, sich den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des urbanen Lebens zu stellen. Und sie stimmen, sinnlos in ikonischer Beethoven’scher Spaziergangshaltung, also mit den Händen auf dem Rücken verschränkt, durch die Bühnenräume kreisend, die letzte Komposition Beethovens an, jene merkwürdigen 13 Noten eines Rätselkanons: »Wir irren allesamt, nur jeder irret anders.«

Nächste Vorstellungen: 26., 27. und 29.1.
www.theater-basel.ch

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.