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Paramilitärs gegen Landlose

Nach Mordanschlag auf Aktivisten der Bewegung MST ermittelt auch Brasiliens Bundespolizei gegen die Attentäter

Brasiliens Landlosenbewegung führt Klassenkampf um landwirtschaftlich nutzbare Flächen.
Brasiliens Landlosenbewegung führt Klassenkampf um landwirtschaftlich nutzbare Flächen.

Brasiliens Regierung bewertet den bewaffneten Angriff vergangenen Freitag auf eine Ansiedlung von Aktivisten, die zur Bewegung der Landarbeiter ohne Boden (MST) gehören, als eine gegen die Agrarreform gerichtete Aktion. Bei dem Überfall in der Gemeinde Tremembé im Paraíba-Tal im Hinterland des Bundesstaats São Paulo waren zwei MST-Mitglieder ermordet und sechs weitere verletzt worden. Brasiliens Minister für landwirtschaftliche Entwicklung und Familienbetriebe, Paulo Texeira, der am Sonntag an der Beerdigung der beiden Opfer teilgenommen hatte, nannte den Anschlag ein Warnsignal. Dieser sei auch eine Folge der Hassreden, mit dem die extreme Rechte die Agrarreform kriminalisiere.

Das Camp des Movimento dos Sem Terra war in der Nacht von zehn bewaffneten Männern überfallen worden, die mit zwei Autos und fünf Motorrädern eingedrungen waren und das Feuer auf die auf einem Versammlungsplatz anwesenden Menschen eröffnet hatten. Die MST-Mitglieder Valdir do Nascimento (52), der mehrere Schüsse in den Kopf erhielt, und der 28-jährige Gleison Barbosa de Carvalho wurden dabei getötet. Nascimento gehörte zur Leitung der MST-Niederlassung in Tremembé. Ein Verletzter befindet sich weiter in einem kritischen Zustand im Krankenhaus und musste von den Ärzten in ein künstliches Koma versetzt werden.

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Das am Rand der Stadt Taubaté gelegene Projekt der Massenbewegung von Kleinbauern trägt den Namen der von den deutschen Nazis 1942 ermordeten Kommunistin und Widerstandskämpferin Olga Benário. Benário war mit dem brasilianischen Revolutionär Luis Carlos Prestes verheiratet und an Hitler-Deutschland ausgeliefert worden. Zur bäuerlichen Gemeinschaft in Tremembé gehören etwa 45 Familien. Bereits vor zwei Jahrzehnten wurde das Projekt von der Nationalen Behörde für Ansiedlung und Agrarreform (Incra) legalisiert.

Gilmar Mauro von der nationalen Leitung des MST wies inzwischen Behauptungen des Polizeichefs von Taubaté zurück. Dieser hatte erklärt, das genaue Tatmotiv werde noch untersucht, doch der Angriff stehe im Zusammenhang mit einem »internen Streit« über den Verkauf von zur Siedlung gehörenden Parzellen. In der Region blüht die Spekulation mit Grund und Boden für Bauprojekte, auch im Zusammenhang mit dem wachsenden Tourismus im Paraíba-Tal.

Der MST-Anführer erklärte hingegen, verantwortlich sei das mit der lokalen Politik vernetzte Immobilienkapital, das es auf attraktive Grundstücke in der städtischen Peripherie für den Bau von Eigentumswohnungen abgesehen habe. Nach dem Vordringen in die Waldschutzgebiete würden die Profitjäger nun die hier ansässigen Familien bedrängen. Für das Massaker in Tremembé seien kriminelle Milizen angeworben worden, die die Familien einschüchtern und von dem Land vertreiben sollen. Nur mit Glück wären angesichts des Überfalls mit schweren Waffen nicht noch mehr Opfer zu beklagen gewesen, betonte Mauro in einer Videobotschaft.

Brasiliens Präsident Lula da Silva von der linksgerichteten Arbeiterpartei (PT) und das Ministerium für Justiz und öffentliche Sicherheit haben die Bundespolizei angewiesen, sich an den Ermittlungen zur Aufklärung des Verbrechens zu beteiligen. Begründet wurde das mit einem übergeordneten öffentlichen Interesse und der Verletzung von Menschenrechten.

Kurz nach dem Angriff konnte ein 41-Jähriger festgenommen werden, der Waffen bei sich trug und aufgrund von Zeugenaussagen verdächtigt wird, der Anführer des Überfallkommandos gewesen zu sein. Am Sonntag konnte von der Polizei auch einer seiner mutmaßlichen Mittäter ergriffen werden. Die Vorwürfe der Justiz lauten auf Mord, Mordversuch und illegalen Waffenbesitz.

In einer Erklärung drückte der MST neben Trauer um den Tod zweier Genossen Empörung darüber aus, dass es im Bundesstaat São Paulo an einer Politik zum Schutz seiner bäuerlichen Gemeinschaften fehle. Bei dem Angriff handele es sich um einen weiteren Akt der hiesigen Landkonflikte. Die Territorien, auf denen die Agrarrefom Fuß fasste, würden trotz wiederholter Forderungen an die Behörden von diesen nicht geschützt; die dort ansässigen Familien seien seit Langem Drohungen und Gewalt ausgesetzt. Einrichtungen und Kooperativen der Bewegung erlebten in den vergangenen Jahrzehnten auch in anderen Teilen Brasiliens immer wieder Überfälle und Mordanschläge auf Aktivisten.

Brasiliens Landwirtschaft prägt bis heute eine extrem ungleiche Verteilung von Grund und Boden, die in der Kolonialzeit wurzelt. Vor allem im Hinterland haben an vielen Orten halbfeudale Strukturen überdauert. Auch unter progressiven Regierungen ist eine gerechtere Landverteilung nur unzureichend vorangetrieben worden.

Die zum Ende der Militärdiktatur vor vier Jahrzehnten gegründete Kleinbauernorganisation hat mit der Lobby der Großgrundbesitzer und Agrarkonzerne einen mächtigen Gegner, der mit dem rechtsextremen Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro verbündet ist. Die Massenbewegung MST, die immer wieder zum Mittel der Landbesetzung greift und ein wichtiger Produzent ökologisch erzeugter Lebensmittel ist, wird aus dieser Ecke als terroristisch abgestempelt.

Minister Texeira bekräftigte bei seinem Besuch der Gemeinschaft »Olga Benário«, dass sich die Regierung in Brasília durch Anschläge nicht von ihrem Agrarreformprogramm abbringen lassen werde. Im Gegenteil wolle man »die Ansiedlung von Menschen, die Nahrungsmittelproduktion garantieren«, erst recht vorantreiben. Im Fall Tremembé, so der Politiker der Arbeiterpartei, »erwarten wir, dass die Polizei die Täter und den wirklichen Drahtzieher dieses Verbrechens ermittelt«.

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