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»Das Urteil verweist auf die Grenzen des internationalen Rechts«

Menschenrechtsgerichtshof entscheidet zwei ähnliche Klagen zu Pushbacks aus Griechenland komplett unterschiedlich

  • Interview: Matthias Monroy
  • Lesedauer: 9 Min.
Die türkische Küstenwache hat die beiden Jugendlichen auf dem driftenden Boot aufgegriffen. Derartige Einsätze nach Pushbacks aus griechischen Gewässern erfolgen beinahe täglich.
Die türkische Küstenwache hat die beiden Jugendlichen auf dem driftenden Boot aufgegriffen. Derartige Einsätze nach Pushbacks aus griechischen Gewässern erfolgen beinahe täglich.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg hat vergangene Woche ein wegweisendes Urteil zu Pushbacks aus Griechenland gefällt. Der 34-jährigen türkischen Mathematikerin Ayşe Erdoğan wurden 20 000 Euro Entschädigung zugesprochen. Worum ging es dabei?

Der EGMR erkannte an, dass ihr die griechischen Behörden den Zugang zu Asyl verweigerten und ihre Rechte verletzten, indem sie sie willkürlich inhaftierten und einem Pushback in die Türkei unterzogen. Dies war nicht nur eine illegale Abschiebung, sondern auch ein Fall von vorübergehendem erzwungenem Verschwindenlassen. Sie hatte versucht, in Griechenland Asyl zu beantragen, wurde jedoch stattdessen willkürlich inhaftiert und gewaltsam in einem Schlauchboot über den Fluss Evros in die Türkei abgeschoben.

Für diese Praxis ist Griechenland ja inzwischen bekannt …

Ja, illegale Abschiebungen an den Land- und Seegrenzen Griechenlands sind seit Jahrzehnten dokumentiert und wurden von zahlreichen Menschenrechtsorganisationen und jetzt auch vom EGMR als systematisch anerkannt. Diese gewaltsamen Praktiken verweigern nicht nur den Zugang zu Schutz, sondern gefährden auch das Leben von Asylsuchenden. Manchmal sind sogar Personen mit EU-Aufenthaltstiteln betroffen. Es gab zum Beispiel einen Fall, in dem ein Frontex-Mitarbeiter versehentlich einem Pushback unterzogen wurde.

Ayşe Erdoğan hatte in Griechenland auch eine Strafanzeige wegen ihrer Zurückschiebung eingereicht. Was ist damit passiert?

Laut ihren Anwälten wurde diese mit der Begründung abgewiesen, es gäbe keine Beweise und die Behörden würden »niemals Pushback-Operationen in die Türkei durchführen«.

Interview
privat

Dr. Niamh Keady-Tabbal ist Forscherin und Dozentin am Irish Centre for Human Rights der University of Galway in Irland. Sie ist Mitglied des rechtlichen Teams, das GRJ vertritt, zusammen mit Anwält*innen von Prakken d’Oliveira und dem Niederländischen Flüchtlingsrat.

Wie konnte sie dann vor Gericht ihren Aufenthalt in Griechenland und den anschließenden Pushback nachweisen?

Die Klägerin hatte Videos von sich selbst aufgenommen, in denen sie erklärte, dass sie sich in Griechenland befinde, um Asyl zu beantragen, und dass sie Angst vor einem Pushback habe. Sie hatte auch das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) per E-Mail informiert, dass sie Asyl beantragen wolle, aber befürchte, in die Türkei zurückgeschoben zu werden, wo ihr Leben in Gefahr sei. Außerdem stand sie in Kontakt mit Anwält*innen. Sie hatte auch Fotos, die sie Familienmitgliedern geschickt hatte, bevor ihr Telefon von den Behörden konfisziert wurde. Sie wurde auf der türkischen Seite festgenommen, und es gab deshalb auch türkische Gerichtsakten, die ihre Rückschiebung aus Griechenland erwähnten.

Das Urteil im Fall Ayşe Erdoğan wird als ein Erfolg gefeiert. Warum?

Es ist ein Erfolg, weil die griechische Regierung trotz zahlreicher Medienberichte, Berichte von Menschenrechtsorganisationen und konkreter Beweise seit Jahren die Praxis der Pushbacks leugnet. Es ist auch wichtig, weil die EU weiterhin mitschuldig daran ist, diese systematischen Verstöße zu ermöglichen: Frontex arbeitet aktiv mit den griechischen Behörden zusammen, die diese gewaltsamen Pushbacks durchführen. Vielleicht kann die Anerkennung dieser systematischen Praxis durch den EGMR zumindest Druck auf die EU ausüben, ihre Unterstützung für diese schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen zu beenden.

Am selben Tag veröffentlichte der EGMR jedoch auch ein gar nicht so positives Urteil im Fall eines afghanischen Jugendlichen, der mit den Initialen »GRJ« identifiziert wurde. Worum ging es dabei?

In diesem Fall ging es um einen 15-jährigen afghanischen Asylsuchenden, der am 9. September 2020 aus einem Flüchtlingslager entführt und illegal von der griechischen Küstenwache abgeschoben wurde. GRJ und ein weiterer Jugendlicher kamen am 8. September 2020 auf der Insel Samos an. Sie versuchten, Asyl zu beantragen, wurden jedoch stattdessen einem lebensgefährlichen Pushback auf See unterzogen: Die Behörden brachten sie aus dem Lager, setzten sie auf ein Küstenwachschiff und ließen sie in einem Schlauchboot treiben. Dies ist eine typische Praxis in der Ägäis und wurde umfassend dokumentiert. GRJ verklagte Griechenland, weil ihm der Zugang zu Asyl verweigert und er einer lebensgefährlichen Abschiebung unterzogen wurde, die unserer Ansicht nach auch Folter darstellt.

Wo hat der 15-Jährige seinen Asylantrag gestellt?

Er versuchte, bei den Behörden im später geschlossenen »Aufnahme- und Identifikationszentrum« in Vathy auf Samos Asyl zu beantragen. Die Behörden teilten ihm in diesem Flüchtlingslager mit, dass er keinen Antrag stellen könne, weil der Asyldienst geschlossen sei. Sie wurden irregeführt und ihnen wurde gesagt, dass sie zunächst unter Quarantäne gestellt würden und danach Zugang zu Asyl erhalten würden.

Wie gelangten die beiden schließlich in die Türkei zurück?

GRJ gab an, dass er und der andere Jugendliche an Bord des griechischen Küstenwachschiffs aneinandergefesselt wurden und man ihnen befahl, den Kopf gesenkt zu halten und sich nicht zu bewegen. Anschließend setzten die Behörden ihn und den anderen Jugendlichen in ein kleines Schlauchboot ohne Motor. Darin wurden sie von der türkischen Küstenwache aufgegriffen. Sie wurden in der Türkei mittellos zurückgelassen. Dort hatte GRJ ebenfalls keinen Zugang zu Schutz oder Unterstützung.

Die Klage vor dem EGMR beruht auf Spuren, die GRJ bei den Behörden hinterließ. Welche waren das?

Bei illegalen Pushbacks aus Griechenland ist es typisch, dass die Behörden keine Aufzeichnungen über Ankünfte führen. Die EU-Betrugsbekämpfungsbehörde OLAF, die die Rolle von Frontex bei griechischen Pushbacks untersuchte, bezeichnet solche Vorfälle als »Geisterlandungen«, bei denen Menschen ankommen, aber ohne offizielle Spuren zurückgeschoben werden. Die griechischen Behörden haben also keine Aufzeichnungen über GRJs Anwesenheit auf Samos am 8. und 9. September. Sie reichten jedoch einen Bericht über zwei Personen ein, die am 9. September auf einem Floß gesichtet wurden und behaupteten, diese Personen hätten versucht, Griechenland zu erreichen. Dies legt in unplausibler Weise nahe, dass die Jungen allein in einem Floß ohne Motor oder Ruder die Überfahrt versucht hätten.

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Welche anderen Beweise gab es in dem Fall?

GRJ und die Gruppe von Asylsuchenden, mit denen er auf Samos ankam, verfügen über audio-visuelle Beweise, darunter Fotos, Videos und GPS-Standorte, die ihre Anwesenheit dort bestätigen. Ihre Positionsdaten schickten sie auch an Aegean Boat Report, eine Basisorganisation, die solche Ereignisse auf See überwacht. GRJs Handy wurde jedoch von den griechischen Behörden beschlagnahmt, sodass er keine Originalbilder vorlegen konnte. Videoaufnahmen zeigen zudem zwei Jungen in einem kleinen Schlauchboot, die mit den Händen paddeln und von der türkischen Küstenwache aufgenommen wurden. Augenzeugenberichte, eine Erklärung eines afghanischen Gemeindevertreters aus dem Lager in Samos sowie Informationen über zwei minderjährige Flüchtlinge, die dem UNHCR gemeldet wurden, stützen ihre Aussagen. Das UNHCR legte dem Gericht dazu eine Drittpartei-Erklärung vor.

Doch für die Richter reichte das offensichtlich nicht aus …

Die Richter verwiesen auf angebliche Ungereimtheiten in seiner Aussage. Sie hinterfragten beispielsweise Aussagen wie: »Waren Sie schon einmal in Griechenland?« Darauf antwortete er sinngemäß: »Jedes Mal, wenn ich versucht habe, einzureisen, haben mich die griechischen Behörden zurückgedrängt.«

Wie passen die beiden Urteile des EGMR zusammen? In einem Fall wurden nur wenige Beweise für den Nachweis eines Pushbacks benötigt, im anderen wurden sie als unzureichend erachtet.

Beide Fälle hatten weitaus mehr Beweise als in den meisten Pushback-Fällen üblich – nicht zuletzt, weil staatliche Beamt*innen in Griechenland Beweise routinemäßig vernichten, indem sie die Mobiltelefone von Asylsuchenden konfiszieren, bevor sie zurückgeschoben oder abgeschoben werden. Erdoğan hatte Beweise, die für den durchschnittlichen Asylsuchenden einfach nicht verfügbar sind. Was der Fall von GRJ zeigt, ist, dass der Beweisstandard des Gerichts die überwiegende Mehrheit der Asylsuchenden daran hindern könnte, irgendeine Form von Gerechtigkeit zu erlangen. Der EGMR ist die letzte Instanz für Pushback-Opfer, die in Griechenland keine Möglichkeit haben, Gerechtigkeit zu erfahren. Das Urteil ist daher äußerst besorgniserregend.

Das in Berlin ansässige European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) hatte bereits den Fall N.D. und N.T. gegen Spanien unterstützt, der vor einigen Jahren eingereicht wurde. Diese Beschwerde wurde 2020 verloren ...

Zwei Asylsuchende hatten den Grenzzaun von Marokko zur spanischen Enklave Melilla überquert. Sie wurden von den spanischen Behörden festgenommen und dann gewaltsam durch eine Tür im Grenzzaun nach Marokko zurückgeschoben – ohne Verfahren oder Zugang zu Schutz. Solche Abschiebungen sind nach internationalem und europäischem Recht illegal. Doch der Gerichtshof schrieb die Verstöße, denen die Antragsteller ausgesetzt waren, letztlich ihrem eigenen »schuldhaften Verhalten« zu. Ein Faktor, auf den die Richter hinwiesen, war die Tatsache, dass die Antragsteller die Grenzen in einer großen Gruppe überquert hatten. Durch diese Logik wird der bloße Akt, Asyl zu suchen, kriminalisiert.

Was waren die Konsequenzen?

Eine der Folgen des Urteils war, dass es dem Gerichtshof und auch Politikern und EU-Beamten eine neue Sprache und Legitimation gab, Zweifel an der Glaubwürdigkeit von Asylsuchenden zu säen. Asylsuchende haben das Recht, Schutz zu suchen. Aber der Akt, Grenzen zu überqueren, um Asyl zu suchen, wird als eine Art »schuldhaftes Verhalten« dargestellt, das Staaten als Rechtfertigung nehmen, den Zugang zu Schutz zu verweigern.

Welche Auswirkungen hat es auf Sie persönlich, wenn Sie solche wichtigen Entscheidungen verlieren und dadurch negative Präzedenzfälle schaffen?

Es ist entmutigend, einem jungen Menschen – der jahrelang auf irgendeine Form von Anerkennung und Wiedergutmachung für das erlittene Unrecht gewartet hat – die Nachricht überbringen zu müssen. Viele der Pushback-Opfer, mit denen ich im Laufe der Jahre gesprochen habe, haben völlig das Vertrauen in das System verloren. Diese Entscheidung ist sehr enttäuschend, und Pushbacks werden weiterhin durchgeführt. Das bedeutet, dass wir nicht nur über den Gerichtshof nachdenken müssen, sondern auch darüber hinaus. Die Menschen müssen über die Missbräuche, die in der gesamten EU stattfinden, informiert werden und Druck auf ihre Regierungen ausüben, diese zu beenden.

Verweist das Urteil im Fall GRJ nicht auch auf die Grenzen strategischer Prozessführung, wie sie unter anderem das ECCHR unterstützt?

Ich denke, das Urteil verweist auf die Grenzen des internationalen Rechts. Dort haben wir das Recht, Asyl zu suchen, und das Recht, ein Land zu verlassen. Aber wir haben nicht das Recht, Grenzen zu überschreiten, um überhaupt Schutz suchen zu können. Ich denke, die Menschen müssen wissen, dass dies passiert und die Rolle ihrer Regierungen infrage stellen.

Würden Sie sagen, dass es einen Wandel im internationalen Recht gibt, parallel zu der politischen Verschiebung nach rechts oder sogar extrem rechts?

Im EGMR hat es seit 2015 einen Wandel gegeben. Früher erkannte das Gericht an, dass Asylsuchende verletzlich sind. Jetzt müssen sie doppelt verletzlich sein, um Schutz zu erhalten. Darüber hinaus sehen wir einen Trend, bei dem das Recht der Staaten, ihre Grenzen zu kontrollieren, immer an erster Stelle steht. Wir arbeiten also in einem System, in dem ein enormes Machtungleichgewicht zwischen den Staaten und den Antragstellern wie Migrant*innen und Asylsuchenden herrscht, die für den Schutz kämpfen, der eigentlich für alle gelten sollte.

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