- Politik
- Gaza-Krieg
Rafah: Rückkehr ins Nichts
Eine Familie aus Rafah im Süden des Gazastreifens will zurück in ihre Heimatstadt
Seit Beginn des Waffenstillstands am vergangenen Sonntag haben viele Familien die Zeltstädte im Süden des Gazastreifens verlassen und kehren in ihre Nachbarschaften zurück. Lange Kolonnen von Fahrzeugen, Karren und zu Fuß nach Norden marschierenden Familien schieben sich von den Stränden nahe der ägyptischen Grenze in Richtung Rafah und in andere Großstädte. Dort schlug bei vielen Rückkehrern die anfängliche Euphorie über das Ende der israelischen Luftangriffe in Bestürzung um.
In Rafah sind nach Schätzungen der Vereinten Nationen wie im Rest des Gazastreifens mindestens 60 Prozent aller Gebäude zerstört. Viele Straßen dorthin sind teilweise unbenutzbar oder wegen nicht explodierter Munition nur im Schritttempo zu befahren.
Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen.
Kaum ein Haus noch intakt
Der Landwirt Abd Al-Sattari hat mit seiner Familie fünf Monate lang in Al-Mawasi in einem Zelt gelebt, zusammengehalten aus einer Plastikplane, Holzlatten und ein paar Nägeln. »Während der Herbststürme mussten wir diese Behausung täglich neu aufbauen, bei Regen waren all unseren Decken restlos nass«, beschreibt der 53-Jährige am Telefon den Alltag in dem Flüchtlingslager. Kurz vor Inkrafttreten des Waffenstillstands hat sich Al-Sattari mit seinem Sohn Mohammad auf den Weg nach Rafah gemacht. Die beiden wollen schauen, ob eines der beiden Häuser der Familie noch bewohnbar ist. »Oder ob wir zumindest ein Zelt auf den Grundstücken aufstellen können, um den Wiederaufbau zu planen.«
Doch die Fahrt durch die beiden Viertel in Rafah, aus denen die Großfamilie stammt, war mehr als ernüchternd. Sowohl in Schabura als auch in Mirage ist kaum noch ein Haus intakt. »In Schabura versuchen unsere Nachbarn sogar, kleinste Flächen von den Trümmern zu räumen, um zumindest eine Nacht in der Nähe ihrer ehemaligen Wohnung mit der angereisten Familie verbringen zu können.« Al-Sattari hatte in Erwartung der völligen Zerstörung seine Frau und die fünf anderen Kinder im Südwesten des Gazastreifens zurückgelassen.
Zivilschutz findet viele Blindgänger
»Es wird hier offensichtlich, dass es der Armee darum ging, uns die Lebensgrundlage zu entziehen. Kein Kampf gegen einen unterlegenen Gegner macht es nötig, sämtliche Gebäude zu zerstören«, sagt er und atmet schwer durch. Doch alleine am Leben zu sein, sei Motivation genug, neu anzufangen, sagt er leise. In den nächsten Wochen will Abd Al-Sattari zusammen mit seinem Sohn und den Nachbarn damit beginnen, die Trümmer so weit zu räumen, dass sie eine kleine Zeltstadt errichten können. Wegen des Verwesungsgeruchs müssen die herbeigerufenen Helfer des Zivilschutzes die Trümmer von Schabura noch nach Leichen durchsuchen.
»Und das mit aller Vorsicht, denn wir stoßen immer wieder auf nicht explodierte israelische Raketen und Bomben«, sagt ein Freiwilliger des Zivilschutzes dem »nd«. Wie viele Angehörige von Hilfsorganisationen, Medien und zivilen Behörden will er seinen Namen nicht veröffentlicht sehen. Denn ihr Vertrauen darin, dass sich die israelische Regierung auch an die Phase zwei und drei halten wird, sind nach den jüngsten Äußerungen von Finanzminister Bezalel Smotrich noch einmal gesunken. Journalisten, Ärzte und die zivilen Helfer fürchten, bei erneuten Luftangriffen das erste Ziel zu sein.
Ultranationalist Smotrich hält an Eliminierung der Hamas fest
»Ich habe Zusagen von Benjamin Netanjahu, dass unser Ziel weiterhin die Eliminierung der Hamas ist«, sagte der Ultranationalist Smotrich am Dienstag. »Im Fall eines Kriegsendes ohne Erreichung dieses Ziels werde ich nicht nur zurücktreten, sondern die Regierung auch bekämpfen.«
In Rafah und anderen zerbombten Orten verfolgt man die innenpolitische Debatte in Israel sehr genau. »Wir müssen alle Optionen für die nächsten Monate durchdenken«, sagt Abd Al-Sattari, »doch eines bleibt unerschütterlich. Das ist unser Wille nach Hause zurückzukehren. Die Radikalen in Israel wollen unsere massenhafte Emigration ins Exil, doch diesen Wunsch werden wir ihnen nicht erfüllen.«
»Das Rafah, dort, wo ich und meine Kinder aufgewachsen sind, gibt es nicht mehr.«
Abd Al-Sattari Landwirt aus Rafah
Überall im Gazastreifen sind solche Sätze zu hören. Sie wirken angesichts der dem Erdboden gleichgemachten Wohnviertel wie Durchhalteparolen in einem auch politisch gespaltenen Land. »Ja, die Meinung über die Hamas-Strategie und die konkurrierende Regierung von Mahmud Abbas in Ramallah ist hier durchaus umstritten«, sagt ein Nachbar aus Schabura. »Politisch wissen wir nicht, wie es weitergeht. Aber dieser Vernichtungskrieg hat eine Solidarität geschaffen, die hoffentlich Berge versetzen wird.«
Während im Süden des Gazastreifens zumindest schon mit dem Abbau der Schuttberge begonnen wird, warten die Bewohner des Nordens weiterhin darauf, ihre Häuser und Wohnungen mit eigenen Augen sehen zu können. Die israelische Armee hatte den Gazastreifen während des 15-monatigen Krieges in zwei Teile gespalten.
Israels Rechte wollen den nördlichen Gazastreifen entvölkern
Nach der Errichtung des von Westen nach Osten verlaufenden Netzarim-Korridors begann die Entvölkerung des nördlichen Gazastreifens. Aus einer schlichten Straße ist mittlerweile eine acht Kilometer breite Sicherheitszone entstanden, in der weiterhin Panzerpatrouillen und Drohen auf alles zielen, was sich bewegt. Doch auch von hier soll sich die Armee laut dem Waffenruhe-Abkommen zurückziehen. Smotrich und Sicherheitsminister Itamar Ben Gwir werben dennoch ganz offen dafür, den Norden von Palästinensern zu säubern und mit jüdischen Siedlungen abzusichern.
Derweil wartet Abd Al-Sattari in Rafah bei Verwandten darauf, die Trümmer wegzuräumen. »Das Rafah, dort, wo ich und meine Kinder aufgewachsen sind, gibt es nicht mehr«, sagt er. Zwar sind am Dienstag sein Bruder und andere Verwandte mit Schaufeln und Nahrungsmitteln eingetroffen, aber es fehlt überall an schwerem Räumgerät.
»Meiner Frau musste ich schweren Herzens sagen, dass wir erst einmal nicht zurückkehren können. Die sitzt mit ihren Schwestern und fünf unserer sechs Kinder auf gepackten Koffern. Sie hält es in Al-Mawasi nicht mehr aus, aber es gibt nichts, wohin wir zurückkehren können.«
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.