Westjordanland: Ein neuer Krieg hat bereits begonnen

Israelische Armee geht mit schwerem militärischen Gerät gegen Palästinenser in Dschenin vor

Israelische Soldaten halten einen Palästinenser an einem Kontrollpunkt am Eingang zur besetzten Stadt Hebron im Westjordanland fest.
Israelische Soldaten halten einen Palästinenser an einem Kontrollpunkt am Eingang zur besetzten Stadt Hebron im Westjordanland fest.

Während die Waffen im Gazastreifen wie vereinbart schweigen, eskaliert die Lage im Westjordanland. Im Norden des von drei Millionen Palästinensern bewohnten und von Israel besetzten Gebietes kam es zu schweren Kämpfen mit mindestens zehn Toten und Dutzenden Verletzten.

Kurz nach Inkraftreten des Abkommens zwischen der Hamas und der Regierung von Benjamin Netanjahu waren Dutzende gepanzerte Fahrzeuge der israelischen Armee in die Stadt Dschenin eingedrungen und hatten das örtliche Flüchtlingslager umstellt. In dem mittlerweile zu einem Stadtteil gewachsenen und drei Quadratkilometer großen Gebiet haben verschiedene bewaffnete Gruppierungen die Kontrolle übernommen.

Über die Häfte der Jugendlichen ist arbeitslos

Die Groß- oder Urgroßeltern der meist kaum volljährigen Anhänger des Islamischen Dschihad, der Hamas und anderer Milizen wurden 1948, während der Gründung des Staates Israel, aus Haifa und anderen Küstenorten vertrieben. In Dschenin, Tulkarem und vielen anderen Orten des Westjordanlandes werden sie zwar als Flüchtlinge geduldet, aber aufgrund ihres rechtlich ungeklärten Status seit Generationen von der UNWRA-Mission der Vereinten Nationen unterstützt.

Die wirtschaftliche Lage in den Flüchtlingslagern des Westjordanlandes ist nach 15 Monaten Krieg im Gazastreifen so prekär wie nie zuvor. Vertreter der Zivilgesellschaft gehen davon aus, dass über die Hälfte der Jugendlichen arbeitslos ist. Die auch für Dschenin zuständige Palästinensische Selbstverwaltung in Ramallah verliert aufgrund ihrer Untätigkeit gegen das brutale israelische Besatzungsregime immer mehr an Rückhalt.

Eigene Strukturen der Hamas im Westjordanland

»Aufgrund der ausweglosen Lage ist dies der einzige Ort im Westjordanland, wo die Hamas eigene Strukturen aufbauen konnte«, sagt Mahmud Talal, Sprecher einer Allianz verschiedener Gruppierungen. Der 55-Jährige hatte nach seiner Teilnahme an der letzten Intifada, der letzten bewaffneten Widerstandsbewegung, wie viele Männer aus Dschenin mehrere Jahre in israelischen Gefängnissen verbracht. Nun engagiert er sich für einen politischen Ausgleich zwischen den rivalisierenden palästinensischen Fraktionen. Doch ein Dialog wird aufgrund der eskalierenden Lage immer schwieriger. Mit einer missglückten Polizeiaktion hatte die Regierung in Ramallah Anfang Januar vergeblich versucht, die Kontrolle über Dschenin zurückzuerlangen.

»Die radikalen Koalitionspartner von Netanjahu wollen im Schatten des Krieges gegen Dschenin weitere Teile des Westjordanlandes annektieren.«

Mahmud Talal Sprecher einer Allianz palästinensischer Gruppierungen

Weil die Bewohner des Flüchtlingslagers in Dschenin weiterhin auf ihr Recht auf Rückkehr pochen, fordern die Ultrarechten in Israel ganz offen die Vertreibung der Bewohner aller Flüchtlingslager nach Jordanien oder in andere arabische Länder. Palästinensische Journalisten berichteten am Dienstag von einem rigorosen Vorgehen der vorrückenden Armee-Einheiten. Die Besatzungen mehrerer Rettungswagen wurden vor laufenden Kameras daran gehindert, von Kugeln getroffene und auf der Straße liegende Passanten zu behandeln.

Der Gouverneur von Dschenin, Kamal Abu Al-Rub, forderte am Mittwoch von der Armee die Freilassung von 200 im Innenhof des Krankenhauses eingeschlossenen Menschen. »Alle Straßen, die zu dem Flüchtlingslager und dem Krankenhaus führen, wurden von Bulldozern zerstört«, so Al-Rub. Israelische Medien berichten lediglich von einem Anti-Terror-Einsatz, bei dem laut Verteidigungsminister Israel Katz zahlreiche Sprengsätze entschärft wurden. Doch wie Premier Netanjahu ließ er auch durchblicken, dass es sich bei dem Sturm auf Dschenin nicht um eine der regelmäßigen Razzien der letzten Jahre handelt. »Wir werden unsere Autorität nun mit neuen Mitteln durchsetzen, so Katz. Netanjahu nennt Dschenin «eine neue Frontlinie im Kampf gegen den iranischen Einfluss in der Region».

Hamas ruft zu Generalmobilmachung auf

Ein Sprecher des «Islamischen Dschihads», einer der tonangebenden bewaffneten Gruppen in Dschenin und Tulkarem, warnt die Regierung von Palästinenser-Präsident Mahmud Abbas, mit den «israelischen Besatzern» zu kooperieren, die Hamas rief am Dienstag zu einer Generalmobilmachung auf.

Bis zum Mittwochmittag hatten nach Angaben des Zivilschutzes in Dschenin mindestens 2000 Familien in den außerhalb des Flüchtlingslagers liegenden Stadtteilen Schutz gesucht. Während am Mittag Kampfflugzeuge über dem dicht besiedelten Flüchtlingslager Bomben abwarfen, nahmen Militärpatrouillen in umliegenden Dörfern Palästinenser fest.

Angriffe jüdischer Siedler auf Palästinenser im Westjordanland

Roland Friedrich, UNRWA-Direktor im Westjordanland, hält das Camp von Dschenin nach den Militäraktionen bereits jetzt für teilweise unbewohnbar. Francesca Albanese, die UN-Berichterstatterin der Vereinten Nationen für die besetzten Gebiete, fordert ein Ende der «israelischen Todesmaschinerie» in Dschenin. Die italienische Diplomatin warnt: «Wenn dies nicht erzwungen wird, wird der Genozid an den Palästinensern bald nicht mehr nur auf den Gazastreifen begrenzt bleiben

Mahmud Talal und andere Vertreter der Zivilgesellschaft glauben seit Langem, dass nur eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage und das Ende der Besatzung die Lage entschärfen kann. «Aber die radikalen Koalitionspartner von Netanjahu wollen im Schatten des Krieges gegen Dschenin weitere Teile des Westjordanlandes annektieren.» Am Dienstag griffen jüdische Siedler rund um die Städte Qalqilia und Hebron tatsächlich palästinensische Bewohner an und brannten ihre Häuser nieder.

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