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Stationierung von US-Raketen: Gleichgewicht des Schreckens
Stationierung von US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland: Friedensforscher sieht wachsende Gefahr nuklearer Eskalation
Sie gehören zu den Erstunterzeichnern eines offenen Briefes, in dem alle zur Bundestagswahl Kandidierenden aufgefordert werden, die geplante Stationierung von US-Mittelstreckenraketen und weiterreichenden Hyperschallraketen zu verhindern. Was hat Sie zur Beteiligung an dem Appell motiviert?
Ich beschäftige mich seit 15 Jahren mit Themen rund um Atomwaffen. Mich hat motiviert, dass diese Stationierungsvereinbarung ein Vorgang ist, den es so in der Geschichte noch nicht gab: Die Bundesregierung hat zusammen mit den USA entschieden, diese Waffen in Deutschland zu stationieren. Das ist ein offensiver Schritt, der nicht einmal mit den Nato-Partnern abgesprochen war, anders als zum Beispiel beim Nato-Doppelbeschluss 1979. Gravierend ist auch, dass die Ankündigung nicht mit Angeboten an Russland verbunden wurde, etwa in Verhandlungen einzutreten, ob man Mittelstreckenraketen wieder verbieten könnte, so wie das mit dem INF-Vertrag 1987 schließlich gelungen war. Und ich sehe zwei Risiken mit der Stationierung: Einerseits macht sich Deutschland damit zum Ziel. Falls es nämlich zum Konflikt zwischen Deutschland und Russland käme, könnte sich Russland nicht sicher sein, wann diese US-Waffen eingesetzt werden und wo sie hinfliegen, ob sie das russische Atomwaffenarsenal attackieren oder russische konventionelle Stützpunkte. Und Russland muss sich dann ganz schnell entscheiden, und das kann zu Fehlern führen und eben auch zu einem Gegenschlag. Das Schlimmste wäre ein Missverständnis: Die Russen denken, Deutschland greift ihre Atomwaffenbestände an, und dann würden sie die vor der vermuteten Zerstörung nutzen. Das könnte der Start eines Atomkriegs sein.
Im offenen Brief liest es sich so, als wäre die Stationierung akzeptabler, wenn es parallel ein Angebot gegenüber Russland zum mittelfristigen Wieder-Abbau der Arsenale an Mittelstreckenwaffen und anderen modernen Systemen gäbe ...
Die Stationierung ist in jedem Fall ein Aufrüstungsschritt, der dazu führen kann, dass die andere Seite eben auch weiter aufrüstet. Das haben wir ja mit dem russischen Angriff mit einer Oreschnik-Rakete in Reaktion auf den Abschuss weiterreichender US-Marschflugkörper durch die Ukraine auf Russland im November gesehen. Dementsprechend ist Aufrüstung auch mit einem Angebot zur perspektivischen Abrüstung sehr risikoreich. Auch mit dem Nato-Doppelbeschluss hat es eine weitere Rüstungsspirale gegeben. In den 1980er Jahren gab es aber die glückliche Fügung, dass mit US-Präsident Ronald Reagan und dem sowjetischen Staatschef Michail Gorbatschow Leute an der Macht waren, die relativ gut aufeinander zugehen konnten und beide das Ziel hatten, tatsächlich zu Abrüstung zu kommen. Mit den aktuellen Leuten an der Spitze Russlands und der USA habe ich wenig Hoffnung, dass es in absehbarer Zeit etwas dergleichen geben könnte. Dazu kommt, dass heute viel weniger Leute als in den 1980er Jahren gegen Raketenstationierungen auf die Straße gehen. Die Kritik im Brief bezieht sich darauf, dass das Fehlen eines Verhandlungsangebotes die Stationierung noch viel schlimmer macht.
Moritz Kütt ist Physiker und forscht am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg. Neben weiteren Naturwissenschaftlern und prominenten Friedensaktivisten gehört er zu den Unterzeichnern eines am Freitag veröffentlichten Briefes, in dem alle zur Bundestagskandidaten aufgefordert werden, sich für einen Stopp der Stationierung neuer US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland stark zu machen.
Die Bundesregierung hat zu der Stationierungsvereinbarung mit den USA erklärt, es gehe um das Schließen einer »Fähigkeitslücke« bei der Luftabwehr. Ist das ein stichhaltiges Argument?
Klassische Luftabwehr ist ohnehin Teil der sogenannten Multi-Domain-Taskforce, die die USA in Wiesbaden seit 2021 aufbauen. Wenn es nur um den Fähigkeitszuwachs bei der Luftabwehr ginge, bräuchte man keine Mittelstreckenraketen, die Bodenziele angreifen können. Insofern ist das Argument nicht stichhaltig, wenn es sich wirklich nur auf Abwehr beziehungsweise Verteidigung bezieht. Deutschland behauptet, dass die Waffensysteme nur zur Abschreckung und defensiv eingesetzt werden sollen. Aber die Tomahawk-Cruise-Missiles gehören mit laut Hersteller 2350 Einsätzen zu den am häufigsten genutzten Marschflugkörpern in der Welt. Sie sind zum Angreifen von Zielen aus der Ferne da und eben nicht für Abwehrmaßnahmen, das wissen wir zum Beispiel aus den Golfkriegen. Und auch die neuen Hyperschallraketen Dark Eagle, die in Deutschland stationiert werden sollen, sind klar zum Treffen von Bodenzielen da.
Die Stationierung wird auch mit der wachsenden Aggressivität Russlands und seinen Raketenstationierungen der letzten Jahre, unter anderem in Kaliningrad und Belarus, begründet.
Das Argument eines Gegengewichts, das man schaffen müsse, klingt erst mal sehr plausibel. Es ist aber ein schwieriges angesichts des neuen Rüstungswettlaufs, in dem wir uns bereits befinden, weil sich dann am Ende auf jeder Waagschale immer mehr Waffen auftürmen. Das führt vielleicht dazu, dass wir ein Gleichgewicht schaffen, aber das ist dann ein sehr labiles Gleichgewicht. Die Waage wäre auch im Gleichgewicht, wenn gar keine Waffen auf jeder Seite liegen würden.
Welche Gefahren gehen genau von den neuen US-Raketen aus?
Die Waffensysteme fallen in den Bereich der Mittelstreckenraketen, wobei der Marschflugkörper Tomahawk bis zu 1600 Kilometer weit reicht und die Dark-Eagle-Hyperschallrakete sogar nach Angaben aus Militärkreisen 2770 Kilometer. Dark Eagle kann also weit in russisches Zentralterritorium fliegen, und das mit mindestens fünffacher Schallgeschwindigkeit. Das heißt, sie legen die genannten 2770 Kilometer in wenigen Minuten zurück. Es wird auch angegeben, dass sie manövrierfähig sind. Das heißt, anders als bei ballistischen Raketen weiß man bis zum Ende nicht, wo sie einschlagen. Und in der Reichweite dieser Hyperschallwaffen liegt eine große Zahl der Anlagen im russischen Nuklearkomplex. Wenn also eine solche Waffe in irgendeine Richtung in Russland fliegt, vielleicht auf ein konventionelles militärisches Ziel, das in der Nähe von einem Nuklearstützpunkt liegt, weiß man in Moskau nicht, welches davon angesteuert wird. Das kann eben zu den eingangs geschilderten übereilten Entscheidungen führen, also auch zum Einsatz von Atomwaffen nach dem Motto »Use them or lose them«.
Welche Möglichkeiten hätte denn der künftige Bundestag, den Stationierungsbeschluss zurückzudrehen, angesichts dessen, dass das Parlament laut Einschätzung seiner Wissenschaftlichen Dienste nicht beteiligt werden musste?
Der Bundestag könnte die rechtlichen Vorgaben ändern. Und wenn es Mehrheiten gegen eine Stationierung der US-Raketen im Parlament gibt, wird es für die Regierungsparteien und die Regierungsmitglieder schwieriger, den Beschluss aufrechtzuerhalten. Dafür wäre es eben wichtig, dass sich die Abgeordneten des künftigen Bundestags klar dazu positionieren.
Manche Militärexperten suggerieren, die modernen taktischen Atomwaffen seien weniger gefährlich als jene, die 1945 in Japan abgeworfen wurden. Ein Atomkrieg wäre nach der Logik führbar ...
Es wird oft gesagt, taktische Atomwaffen seien klein. Das würde ich verneinen. Die typischen taktischen Waffen, die wir im russischen Arsenal vermuten, haben Sprengstärken von rund zehn Kilotonnen. Die Bombe von Hiroshima hatte 16 Kilotonnen. Selbst wenn die Waffen wirklich kleiner sein sollten und zum Beispiel nur eine Kilotonne hätten, entspräche das immer noch der Energie von einer Million Kilogramm konventionellen Sprengstoffs. Bei Abwurf entstünde eine Riesenexplosion plus radioaktiver Verseuchung plus thermischer Strahlung, die alles Umliegende in Brand setzt. Ein neues Zeitalter nuklearer Kriegführung kann angesichts solcher Folgen niemand wollen.
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