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NS-Zwangsarbeit: Ausgebeutet und vergessen
Gedenkspaziergang erinnert an KZ-Zwangsarbeit bei Daimler-Benz in Ludwigsfelde
Wenn man mit dem Zug aus Berlin nach Ludwigsfelde einfährt, ist das Mercedes-Werk samt ikonischem Stern kaum zu übersehen. Das Unternehmen ist mit seinen rund 2000 Mitarbeitenden einer der größten Arbeitgeber der Region Teltow-Fläming und prägte Industrialisierung und Siedlungsgeschichte der Stadt Ludwigsfelde. 1936 wurde ein Großmotorenwerk in der Genshagener Heide bei Ludwigsfelde errichtet. Dort produzierte Daimler-Benz in Zusammenarbeit mit dem Reichsluftfahrtministerium Flugzeugmotoren für die Luftwaffe. In der Folge stieg die Einwohnerzahl von wenigen Hundert auf ein Vielfaches.
Wie eng die Geschichte von Mercedes und Ludwigsfelde mit dem Einsatz von Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie des NS-Staates verbunden ist, darauf deutet beinahe 80 Jahre nach Kriegsende in der Stadt wenig hin. Tausende deportierte Zivilarbeiter*innen, Kriegs- und KZ-Gefangene, darunter von Oktober 1944 bis April 1945 auch 1100 Frauen aus dem Konzentrationslager Ravensbrück, arbeiteten hier unter grausamen Bedingungen.
Das im alten Bahnhofsgebäude angesiedelte Stadt- und Technikmuseum befasst sich in einem Raum mit der Industriegeschichte vor 1945 und zeigt unter anderem Bilder, in denen sich die ungarisch-jüdische Bildhauerin Edith Bán-Kiss mit ihrer Zeit in Ravensbrück und Genshagen auseinandersetzt. Ein Denkmal für die Zwangsarbeiter*innen gibt es in Ludwigsfelde hingegen nicht. Auch auf dem Gelände des ehemaligen Flugmotorenwerks verweist nichts auf die Geschichte des Ortes.
Der Forensiker und freie Historiker Andreas Heinze und die freischaffende Filmemacherin* Marlene Pardeller haben sich zur Aufgabe gemacht, die Debatte um das Gedenken wieder anzustoßen. Am Samstag haben sie erstmalig einen Gedenkspaziergang durch Ludwigsfelde zum Gelände des ehemaligen Motorenwerks organisiert, um an das Schicksal der Zwangsarbeiter*innen von Genshagen zu erinnern und auf offene Fragen in der Aufarbeitung zu verweisen. Heinze beschäftigt sich seit einigen Jahren mit Genshagen, Pardeller stieß über die Recherche für einen Film hinzu.
Auch 80 Jahre nach Kriegsende besteht Ungewissheit über den Verbleib von Getöteten und Gestorbenen. Dies ist dem Ludwigsfelder Forensiker Heinze, der beruflich mit Friedhöfen zu tun hatte, ein besonderes Anliegen. Wer nicht ordentlich beerdigt werde, würde vergessen, ist er sicher. »Die Zwangsarbeiter liegen heute noch vergessen im Wald«, so Heinze. Auf einem vermeintlich beräumten Friedhof in einem Waldstück nahe der Autobahn vermutet er ein Massengrab.
Dorthin führt Heinze die rund 60 Teilnehmer*innen des Spaziergangs allerdings nicht. Stattdessen führt die Route vom Ludwigsfelder Bahnhof durch die ehemaligen Lagerbereiche. Das Kriegsgefangenen- und das nahegelegene Zwangsarbeiterlager im Ortskern sind seit den 1950ern überbaut – Ludwigsfelde ist als Industriestandort auch in der DDR weitergewachsen.
Während die Gruppe durch die Tanneur-Straße geht, fährt eine Polizeistreife vor. Sie bleibt in der Nähe, so lange sich der Gedenkspaziergang durch den Ort bewegt. Der Grund: Ebenso hält es seit Bahnhofsnähe eine Gruppe Jugendlicher mit augenscheinlich modischen Vorbildern im Rechtsextremismus der 90er-Jahre, allerdings stets mit etwas Abstand. Die Veranstaltung bleibt störungsfrei.
Um zum Ziel des zweistündigen Spaziergangs zu gelangen, geht es über einen Waldweg und durch Unterholz, bis man auf einer Heidewiese in der Nähe der Bahntrasse steht. Etwas Mauerwerk und Metallschrott deuten noch die Größe der einstigen Anlagen an. In der hiesigen Produktionshalle, »Deutschlandhalle« genannt, fand ab 1942 die Endmontage der Motoren der Kampfflugzeuge statt. Im darunter liegenden Kellergeschoss waren 500 Frauen aus Ravensbrück untergebracht.
»Die Zwangsarbeiter liegen heute noch vergessen im Wald.«
Andreas Heinze Historiker
Mittlerweile ist die Fläche als Bodendenkmal ausgewiesen, auf Heinzes Bestreben hin, wie er erklärt. Vor ein paar Jahren habe ein Investor Interesse an dem Areal gehabt, nun müsse zumindest das ehemalige KZ-Außenlager im Keller bei Bebauungsplänen berücksichtigt werden. Was nun mit dem Gelände geschieht, ist offen.
Ob die Forderungen nach Denkmal und forensischer Untersuchung des unmarkierten »Waldfriedhofs« bei den Verantwortlichen Gehör finden, wird sich zeigen. Die Recherchearbeit zu Genshagen gestalte sich bisher kleinteilig, berichtet Marlene Pardeller. Auch da Mercedes-Benz etwa dem Museumsleiter in Ludwigsfelde oder Gedenkstätten den Archivzugang verweigere.
In der Vergangenheit seien es vor allem Einzelpersonen wie der Historiker Helmuth Bauer gewesen, der mit Überlebenden zusammengearbeitet und initiativ zu Genshagen geforscht hätten, berichtet Marlene Pardeller. »Daimler ist erst nach dem ersten Buch in die Aufarbeitung eingestiegen«, so Pardeller. »Man bekommt den Eindruck, für Mercedes ist die Aufarbeitung seitdem abgeschlossen«. Davon will sich Pardeller aber nicht abschrecken lassen. So sind für die Zukunft weitere Veranstaltungen zu Genshagen geplant.
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