Mexiko: »Entmenschlichende Praktiken«

Der Historiker David Dorado Romo über den Einsatz des Pestizids bei mexikanischen Wanderarbeitern lange vor dem Holocaust

  • Interview: Kathrin Zeiske
  • Lesedauer: 7 Min.
Viele Mexikaner*innen arbeiteten im frühen 20. Jahrhundert jenseits der Grenze in den USA – und erfuhren oft Anfeindungen und Rassismus.
Viele Mexikaner*innen arbeiteten im frühen 20. Jahrhundert jenseits der Grenze in den USA – und erfuhren oft Anfeindungen und Rassismus.

Der todbringende Einsatz von Zyklon B im Holocaust ist weitreichend bekannt. Dass es zunächst als Pestizid an der mexikanischen Grenze zu den USA eingesetzt wurde, weiß kaum jemand.

Selbst in den USA wissen die wenigsten von den entmenschlichenden Entlausungspraktiken, denen mexikanische Wander- und Gastarbeiter*innen unterzogen wurden. Ideologische Grundlage dessen war stets Rassismus und das Konstrukt von »Rassenhygiene«. Mit der Rechtfertigung, dass Mexikaner*innen Läuse und mit diesen Typhus in die USA einschleppten, wurden ab 1917 Pestizide auf der Grenzbrücke Santa Fe zwischen Ciudad Juárez und El Paso eingesetzt. Ein junges Mädchen, Carmelita Torres, war die erste, die sich dagegen wehrte und die von Frauen angeführten »Bath Riots« auslöste. Denn alle Grenzgänger*innen mussten sich komplett vor den Beamten entkleiden, untersuchen lassen und Kerosinbäder nehmen. Alle abgelegten Kleidungsstücke wurden mit Pestiziden bearbeitet.

Und dabei kam es zum Einsatz von Zyklon B?

Ab 1929 wurde die Kleidung mit Zyklon B eingesprüht. Hätte man es direkt auf dem menschlichen Körper angewandt, hätte das schwere Gesundheitsschäden und sogar Todesfälle zur Folge gehabt. Inwieweit Betroffene auch über ihre imprägnierte Kleidung auf der Haut gesundheitliche Folgen davontrugen, können wir heute nicht mehr nachvollziehen. Das Biozid wurde an der Grenze noch bis 1935 verwendet. Den Gastarbeiter*innen, die im Zweiten Weltkrieg die US-amerikanischen Männer an der Front in Europa bei der Ernte ersetzten, wurde dann schon krebserregendes DDT direkt auf die Haut gesprüht.

Interview

David Dorado Romo lebt in der texanischen Grenzstadt El Paso. Wie die Mehrheit ihrer Bewohner*innen stammt seine Familie aus dem benachbarten Mexiko. Der Historiker stellt Nachforschungen über globale mikrohistorische Zusammenhänge an. So auch zwischen dem dortigen Einsatz von Zyklon B als Pestizid in rassistischen Entlausungspraktiken bis hin zur Massenproduktion für den Holocaust.

Wie sind Sie auf diese historische Praxis gestoßen?

Ich war noch auf der Highschool, als meine Großtante Adela Dorado von den Demütigungen berichtete, die sie auf der Grenzbrücke erfuhr. Sie wurde Anfang des letzten Jahrhunderts zur Zeit der mexikanischen Revolution in Ciudad Juárez geboren und arbeitete in den 1930er Jahren als Dienstmädchen in El Paso (Texas). Auf der Grenzbrücke »Santa Fe« dazwischen wurde sie regelmäßig gezwungen, sich nackt vor den Beamten auszuziehen, eine entwürdigende Angelegenheit; sie machten Witze und manchmal sogar Fotos. Aber was der damals jungen Frau als wirklich empörend in Erinnerung blieb, war, dass ihre neuen Schuhe in einem der Trockner schmolzen, in die alle Kleidungsstücke nach den Chemiebädern deponiert wurden. Damals zweifelte ich ihre Worte an, meinte, solche Maschinen seien doch eine spätere technische Erfindung. Vielleicht wollte ich es auch einfach nicht wahrhaben, was sie mir da erzählte. Als ich als Erwachsener für die Recherche eines Buches im Nationalarchiv Fotos von großen Industrietrocknern an der Grenze fand, voller Kleidung, Hüten und Schuhen, sah ich die Erinnerungen meiner Tante bestätigt.

Sie sprechen in ihrem Buch »Ringside Seat to a Revolution« davon, dass der Einsatz des Biozids an der US-Grenze in Nazideutschland rezipiert wurde.

Tatsächlich wird in dem Journal »Anzeiger für Schädlingskunde« von 1937 berichtet, wie effektiv Zyklon B als Pestizid bei Grenzkontrollen an mexikanischen Arbeiter*innen eingesetzt wurde. Dabei wird vom »Schutz des Vaterlandes« vor »ausländischem Ungeziefer« gesprochen. Ein Dr. Gerhard Peters schrieb den Artikel. Später sicherte er für die Degesch, die »Deutsche Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung«, das Patent für die Massenproduktion von Zyklon B. Chemiker wie er, die vom Nationalsozialismus überzeugt waren, instruierten dann im Holocaust das Personal der Konzentrationslager, wie sie es auf eine sichere Weise für sich und eine absolut tödliche für die Insassen anwenden konnten. Diese transkontinentalen Zusammenhänge sind kein Zufall. Das Konstrukt der »Rassenhygiene« war Anfang des 20. Jahrhunderts in den USA weit verbreitet und die Nazis beobachteten genau, was sich jenseits des Atlantiks auf diesem Gebiet tat. Adolf Hitler bewunderte die Staaten: Vor dem Krieg hatte er einen Privatzug namens »Amerika«.

Gibt es weitere Beispiele dafür?

Hitler zeigte sich begeistert vom US-Einwanderungsgesetz von 1924, nach dem Migrant*innen, die gewisse »Rassenkriterien« nicht erfüllten, die Einreise verweigert wurde. Er schrieb dem Chef-Eugeniker in Harvard, Madison Grant, »Fanpost« und bezeichnete darin dessen Buch »The Passing of the Great Race« als »seine Bibel«. Es gab Briefe zwischen US-amerikanischen Eugenikern, die sich einander beglückwünschten, deutsche Rassenkundler beeinflusst zu haben. Jene verfolgten wiederum begeistert, was in den in ihren Augen auf diesem Feld »fortschrittlichen« USA vor sich ging. In Deutschland gab es schließlich keine Stiftungsgelder für eine »Rassenforschung« wie sie in den Staaten an den Universitäten betrieben wurde. Sogar Begriffe, die heute jeder als Nazi-Terminologie kennt, tauchten erstmals in den USA auf.

Als da wären?

Das Konzept des »Untermenschen« stellt der US-Eugeniker Lothrop Stoddard in seinem Buch »The Revolt of Zivilisation. The Menage of the Under-Man« auf. Ich persönlich dachte immer, diesen Begriff hätten die Nazis erfunden. Diese guckten aber auf die Elite-Professoren in den Staaten, auf Einwanderungsgesetze, auf die Praxis von sogenannter Rassenhygiene. Diese wurden oft eins zu eins übernommen; nur die Begrifflichkeiten wurden ausgetauscht. So wurden schon ab den 1920er Jahren mexikanisch-stämmige US-Amerikanerinnen in Kalifornien Zwangssterilisationen unterzogen, um »nordische Züge« in der US-Bevölkerung »zu stärken«. Der Terminus »nordisch« wurde in den USA sehr ähnlich dem Begriff »arisch« in Deutschland verwendet, in Bezug auf eine angebliche »Herrenrasse« aus Nordeuropa.

In den USA führte aber die »Rassenkunde« nicht zum Genozid.

Ich weiß, wie kontrovers manche Aussagen klingen mögen. Aber ich will keine Vergleiche anstellen, ich will Geschichte in einen Bezug setzen. Denn diese ist transnational und hat nicht isoliert stattgefunden. Ich habe an der Hebräischen Universität von Jerusalem studiert. Dort brachte man mir fundiert bei, keine Vergleiche zum Holocaust aufzustellen, was inflationär getan und für mannigfaltige politische Zwecke missbraucht wird. Doch der Holocaust in Deutschland fand keinesfalls in einem historischen Vakuum statt. Die Nazis einschließlich Hitler puzzelten ihre Ideologie aus Versatzstücken zusammen und hielten stets nach Büchern und Gesetzesvorlagen Ausschau. So manches, was erstmals in den USA erprobt wurde, hat Nazideutschland übernommen.

Bekannt ist, dass die sogenannten »Jim-Crow-Gesetze«, die die Schwarze Bevölkerung auch nach der Abschaffung der Sklaverei als Menschen zweiter Klasse beließen, das nationalsozialistische Deutschland beeinflussten.

Andere historische Begebenheiten sind noch nicht einmal in den USA selbst präsent. Während der Weltwirtschaftskrise wurden 1,2 Millionen mexikanisch-stämmige US-Amerikaner*innen einfach abgeschoben. Das war eindeutig gegen das Gesetz, denn es waren US-Bürger*innen. Grenzschützer setzten Familien allein aufgrund von ethnischer Zugehörigkeit in Züge, um sie abzuschieben. Sie gingen in die Krankenhäuser, und alle mexikanischen Patient*innen mit Behinderungen wurden nach Mexiko verfrachtet. Niemand hat sich jemals dafür entschuldigt, es gab nie Entschädigungen. Die Deutschen wurden gezwungen, sich mit ihrer Geschichte auseinanderzusetzen. Menschen in den USA mussten dies nie tun.

Gerade ist Donald Trump erneut als US-Präsident ins Amt gekommen. Er will massive Abschiebungen umsetzen, auch von Familien mit Kindern, die US-Staatsbürger*innen sind.

Und von seiner Ex-Frau Ivana Trump wissen wir, dass er Hitlers Reden als Nachtlektüre neben dem Bett liegen hatte. Das hat sie noch vor seiner ersten Präsidentschaft in einem Interview erzählt. Bei einer Wahlkampfveranstaltung im Dezember 2023 sagte er über uns Mexikaner: »Diese Leute werden das Blut unserer Nation vergiften.« Ein Hitler-Zitat! Trump hat das geleugnet. Und vielleicht hat er recht, vielleicht haben es ja US-amerikanische Eugeniker schon vor Hitler gesagt.

Wie sieht gegenwärtig die Situation an der Grenze aus?

Donald Trump überlässt die Grenzkontrollen den Bundesstaaten, denn er weiß, dass auf den Gouverneur von Texas mit dem längsten Grenzabschnitt zu Mexiko Verlass ist. Der rechte Hardliner Greg Abbott hat Trumps Mauer unter Biden mit unzähligen Quadratkilometern von Klingendrahtfeldern und stacheldrahtbesetzten Bojen im Grenzfluss verstärken lassen. Geflüchtete laufen hier Gefahr an Schnittwunden zu verbluten. Der Einsatz von Stacheldraht hat die gleiche entmenschlichende Wirkung wie das Entlausen vor 100 Jahren. Er wurde in Illinois erfunden, um Vieh zusammenzuhalten, aber bald schon wurden indigene Gemeinschaften damit eingepfercht. In den Kolonialkriegen zäunten die Spanier Gefangenenlager damit ein. Im Ersten Weltkrieg wurden erstmals Klingendrahtfelder von den Deutschen zwischen dem besetzten Belgien und der freien Niederlande ausgelegt und elektrifiziert. 3000 Menschen starben in ihnen. Länder lernen voneinander die Praxis von Unrecht.

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