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Claudia Sheinbaum: Die Turbo-Präsidentin
Claudia Sheinbaum startet in Mexiko mit viel Schwung in ihre Amtszeit
Es war eine Machtdemonstration: Am 12. Januar feierte Mexikos linksprogressive Präsidentin Claudia Sheinbaum vor mehreren hunderttausend Menschen auf dem Zócalo, dem zentralen Platz von Mexiko-Stadt. Gut gelaunt und von Beliebtheitswerten zwischen 70 und 80 Prozent getragen, bilanzierte die erste Frau an der Spitze des Landes die ersten hundert Tage ihrer Amtszeit.
Sheinbaum will, wie vor ihrem Amtsantritt im Oktober 2024 angekündigt, die Politik ihres Vorgängers Andrés Manuel López Obrador (AMLO) weitgehend fortführen: den Ausbau der Sozialprogramme, eine stärker lenkende Rolle des Staates in der Wirtschaft und ein investitionsfreundliches Klima für Unternehmen. Um ihre Vorhaben durchzusetzen, hat die Regierungschefin innenpolitisch beste Voraussetzungen. Anders als beispielsweise die Lula-Regierung in Brasilien, die selbst einfache Parlamentsmehrheiten verhandeln muss, verfügen die mexikanische Regierungspartei MORENA und ihre Verbündeten in Senat und Abgeordnetenhaus über Zweidrittelmehrheiten. So konnte die neue Regierung bereits mehr als ein Dutzend Verfassungsreformen durchbringen. AMLO war daran noch wegen fehlender qualifizierter Mehrheiten gescheitert.
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Zu den in der Verfassung festgeschriebenen Änderungen gehören eine umfassende Justizreform und die Anerkennung der indigenen Völker Mexikos als Rechtssubjekte, aber auch die formale Eingliederung der Nationalgarde in die Militärstrukturen, eine Alterssicherung für die Bevölkerung ab 65 und das Recht auf kostenlose medizinische Grundversorgung.
Außenpolitisch ist die Lage für Sheinbaum jedoch komplizierter und vom Verhältnis zu den übermächtigen USA dominiert, die seit dem 20. Januar von Donald Trump regiert werden. Das Thema Strafzölle und die angedrohten US-Massendeportationen von Migrant*innen nach Mexiko werden die mexikanische Innen- und Wirtschaftspolitik maßgeblich beeinflussen. Wie ein Mantra wiederholt Sheinbaum seit Wochen, ihr Land wolle gute Beziehungen zum Nachbarn im Norden – »aber niemals eine Unterordnung«. Das wird nun auf eine harte Probe gestellt.
»Geteilter Reichtum«
Mehr noch als ihr Vorgänger setzt Sheinbaum auf enge Kooperation mit der Privatwirtschaft. Einen Tag nach ihrem Auftritt auf dem Zócalo präsentierte sie ihren »Plan Mexiko«, der das Land zur weltweit zehngrößten Volkswirtschaft und »zum besten Land der Welt« machen soll.
Der Plan sieht den Ausbau mehrerer Häfen und des Schienenverkehrs in Mexikos Norden vor. Investitionsanreize sollen die weitere Industrialisierung des Landes im Sinne einer »modernisierenden Entwicklung« fördern. Auch ihrem guten Ruf als Umweltwissenschaftlerin wird die Präsidentin gerecht: Die Vorbereitungen für eine eigene staatliche Produktion kleiner Elektroautos sind getroffen. Eines der drei geplanten Modelle soll dann zur Eröffnung der – gemeinsam mit den USA und Kanada veranstalteten – Fußballweltmeisterschaft am 11. Juni 2026 in das Azteken-Stadion einfahren.
Sheinbaum will einen höheren nationalen Anteil an der Warenproduktion und den Lieferketten, ohne auf internationale Investitionen zu verzichten. In Richtung Trump gibt sie das Versprechen, den wirtschaftlichen Einfluss Chinas in Mexiko zu begrenzen. Dabei betreibt sie auch Symbolpolitik, wie die öffentlichkeitswirksame Beschlagnahme billiger chinesischer Piraten-Produkte oder Importzölle von 20 Prozent auf Textilien der chinesischen Unternehmen Shein und Temu.
Hinzu kommt ein eindeutiges Bekenntnis zum Freihandelsvertrag T-MEC mit den USA und Kanada, der 2020 den NAFTA-Vertrag ersetzte. 2026 wird er neu verhandelt. Donald Trump sieht die USA benachteiligt und droht mit Ausstieg. Nur leise deutet Sheinbaum angesichts der ständigen Verbalattacken aus Washington an, dass Mexiko sich in diesem Fall verstärkt anderen Handelspartnern zuwenden müsse. Der Mitte Januar erzielte »Modernisierungsabschluss« des Freihandelsabkommens zwischen Mexiko und der EU kommt der Regierung daher nicht ungelegen.
Unter dem Strich erwartet Sheinbaum vom Plan Mexiko einen »geteilten Reichtum«, der die soziale Ungleichheit verringert. Eine strukturelle Steuerreform, die hohe Einkommen stärker belastet, hält sie weiterhin nicht für notwendig.
Die Mehrheit der Unternehmerschaft schätzt die Kooperation mit der Regierung und kommt Sheinbaum entgegen. Der Dachverband CCE erklärte blumig, sich »dem menschlichen Inhalt der neuen Zeiten« anzuschließen, und stimmte der vorgesehenen jährlichen Steigerung des Mindestlohns um zwölf Prozent ausdrücklich zu. Da die Inflation derzeit nur bei gut vier Prozent liegt, dürfen sich rund acht Millionen Arbeiter*innen über einen erheblichen Reallohnzuwachs freuen.
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Sheinbaum kann in den ersten Monaten ihrer Amtszeit in einem stabilen makroökonomischen Rahmen agieren. Die erwarteten Auslandsinvestitionen weisen mit etwa 40 Milliarden US-Dollar in diesem Jahr einen Rekordwert auf, die Devisenreserven der mexikanischen Zentralbank sind mit 230 Milliarden USD so hoch wie nie zuvor. Die remesas, die Rücküberweisungen der in den USA lebenden Mexikaner*innen an ihre Familien, erreichten 2024 mit etwa 66 Milliarden USD ebenfalls einen neuen Höchststand. Trotz dieser hohen Summe ist ihr Anteil mit 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts wesentlich geringer, als es beispielsweise bei den kleinen mittelamerikanischen Ökonomien der Fall ist. Das macht Mexiko weniger verwundbar.
Der mexikanische Peso bleibt auch unter Sheinbaum – und trotz Trump – bislang weitgehend stabil. Die öffentliche Verschuldung stieg zwar im vergangenen Jahr auf knapp über 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, ist aber im internationalen Vergleich immer noch vergleichsweise gering.
Ausbau der Sozialprogramme
Die Regierung wird ihren enormen Rückhalt in der Bevölkerung nur bewahren können, wenn sie in der Sozialpolitik liefert. Darum drückt Sheinbaum auch in diesem Bereich aufs Tempo. Die Sozialausgaben pro Kopf lagen noch nie so hoch wie dieses Jahr. Die im Wahlkampf angekündigten neuen Programme werden schrittweise, aber zügig eingeführt. So werden Frauen, noch über den Verfassungsauftrag hinausgehend, bereits ab 60 Jahren eine Grundrente beziehen.
Gleichzeitig richtet die Regierung den Blick auf die jungen Generationen. Unter AMLO gab es ein Stipendienprogramm für Oberstufenschüler*innen, gut eine Million Jugendlicher profitierte davon. Sheinbaum will bereits im Vorschulalter mit den Zahlungen anfangen und am Ende mehr als 20 Millionen Kinder und Jugendliche erreichen.
Ein weiteres Aktionsfeld ist die Ankurbelung des sozialen Wohnungsbaus und dessen Neustrukturierung. Dieser Sektor kämpft seit Jahrzehnten mit ausgeprägter Korruption. Im Fokus von Regierungsinitiativen befinden sich auch Fortbildungs- und Sorgeangebot in den Städten.
Die 25-Millionen-Metropole Mexiko-Stadt spielt eine Vorreiterrolle. Die Zahl der sogenannten Treffpunkte für Innovation, Freiheit, Kunst, Bildung und Wissen (Pilares), die Sheinbaum einst als Bürgermeisterin der Stadt einführte, wird massiv aufgestockt. Das kostenlose Angebot soll nach und nach landesweit verfügbar sein. In der Hauptstadt werden die Pilares von der neuen Bürgermeisterin Clara Brugada (MORENA) durch ihre Initiative der UTOPIAS flankiert, die einen ähnlichen Ansatz verfolgen. Brugada geht in der Hauptstadt zudem mit Transportsubventionen für Studierende und Schüler*innen sowie Unterstützungszahlungen für Familien mit Kleinkindern voran.
Trumps Drohgebärden
Ein neues Element, das die Wirtschafts- und Sozialpolitik in eher ländlichen Gebieten kombiniert, sind Direktzuweisungen aus dem Bundeshaushalt an die indigenen und afroamerikanischen Völker und Gemeinden für »soziale Infrastruktur«. Dies ist eine Auswirkung der erwähnten Verfassungsreform, die diese Völker und Gemeinden im Artikel 2 der mexikanischen Verfassung als Rechtssubjekte anerkennt.
Nicht alle teilen Sheinbaums Optimismus, die Sozialprogramme auch mittel- und langfristig finanzieren zu können. Mexikos Gesundheitssystem benötigt nach wie vor riesige Investitionen, wenn die staatliche Grundversorgung garantiert und verbessert werden soll. Ähnlich sieht es im Bildungsbereich aus. Hinzu kommt: Das für die kommenden Jahre prognostizierte Wirtschaftswachstum von 1,5 bis 2,5 Prozent wird keine wesentlichen Mehreinnahmen für den Staat erbringen. So könnte die erfolgreiche Sozialpolitik schon bald an finanziellen Grenzen stoßen, sofern keine neuen Finanzquellen erschlossen werden.
Und so gut sich Mexiko auch zu wappnen sucht: Sollte Donald Trump seine Drohungen gegenüber Mexiko wahrmachen, könnte dies die Stabilität des Landes bedrohen. Zu Trumps Droharsenal gehören nicht nur Strafzölle und Deportationen, sondern auch unilaterale US-Militärschläge und -Interventionen gegen die als »terroristisch« deklarierte, organisierte Drogenkriminalität. Ein abrupter Ausstieg der USA aus dem T-MEC oder US-Sanktionen wegen der chinesischen Investitionen in Mexiko sind weitere Maßnahmen, die das Land hart treffen würden. Noch überwiegt in Mexiko die Hoffnung, dass die Trump-Regierung sich mit vielen ihrer angedrohten Aktionen ins eigene Fleisch schneiden würde und deshalb die Finger davonlässt. Doch sicher ist sich bei Trump niemand.
Trotz der Bedrohung von außen können sich die mexikanische Regierung und die MORENA-Partei derzeit nur selbst schlagen. Mit der schnellen Umsetzung neuer Sozialprogramme hat Claudia Sheinbaum ihre ersten hundert Tage im Amt erfolgreich gemeistert. Mit der Weiterführung der allmorgendlichen Pressekonferenzen bestimmt sie, wie ihr Vorgänger, Tag für Tag die politische Agenda im Land. Die konservative bis rechtsautoritäre Opposition hingegen ist derzeit keine relevante politische Kraft, sie tritt weder geschlossen auf, noch verfängt ihr Diskurs bei der Bevölkerung.
Dabei ist es nicht so, dass Sheinbaums Regierung keine Angriffsfläche böte: So verteidigt sie das zunehmende Gewicht der Militärs in den zivilen Bereichen der mexikanischen Gesellschaft. Und Sheinbaum muss erst noch beweisen, dass sie in der Lage ist, die Gewalt der organisierten Kriminalität zu verringern und das Schicksal der mehr als 120 000 Verschwunden aufzuklären.
Entgegen dem weltweiten Trend vertraut jedoch eine deutliche Bevölkerungsmehrheit weiterhin einer linksprogressiven Partei an der Macht. Damit hat Mexiko fast schon ein Alleinstellungsmerkmal. Aus dieser Perspektive bleiben Sheinbaum und die MORENA-Regierung ein echter Lichtblick in eher düsteren Zeiten.
Gerold Schmidt leitet das Regionalbüro Mexiko, Zentralamerika und Kuba der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Mexiko-Stadt.
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