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- »Neuen Volksfront« in Frankreich
Olivier Besancenot: »Einheit und Radikalität«
Ex-Präsidentschaftskandidat Olivier Besancenot über den Zustand der französischen »Neuen Volksfront«
Sie waren in den 2000er Jahren einer der bekanntesten Politiker der Linken, danach arbeiteten Sie wieder als Postbote. Eher untypisch für einen Politiker, oder?
Ich habe nie aufgehört, als Postbote zu arbeiten. Während der Wahlkampagnen durfte ich zwei Monate lang aussetzen, aber ansonsten habe ich immer meinen Job gemacht. In unserer Organisation gibt es auch keinen Posten als Generalsekretär, Schatzmeister oder so etwas.
Bei Meinungsumfragen in Frankreich liegt Marine Le Pen vom »Rassemblement National« regelmäßig vorn. Gehört sie zur selben wirtschaftsliberalen Linie wie Trump, Meloni und Milei oder gibt es da Unterschiede?
Marine Le Pen gehört zweifelsohne zu dieser autoritären, neofaschistischen Strömung. Sie tritt zwar etwas sozialer auf als die AfD in Deutschland, aber das hat taktische Gründe. Als die Bevölkerung gegen die Anhebung des Rentenalters kämpfte, wurde Le Pen etwas weniger wirtschaftsliberal. Aber schon bald hat sie das revidiert. Ich würde sagen, sie passt sich an Stimmungen an.
Olivier Besancenot ist Postbote und errang als linker Präsidentschaftskandidat der revolutionärsozialistischen Organisation LCR 2002 und 2007 in Frankreich jeweils etwas mehr als 4 Prozent. Heute ist er Aktivist der kleinen »Neuen Antikapitalistischen Partei« (NPA) und engagiert sich in der »Neuen Volksfront« (Nouveau Front Populaire) sowie verschiedenen sozialen Bewegungen.
Neoliberale Wirtschaftspolitik, rassistische Polizeigewalt, Neokolonialismus in Afrika und Ozeanien – all das gibt es schon heute unter Präsident Macron. Was würde sich unter Le Pen eigentlich noch verschlimmern?
Vor allem würde die Repression in den Armenvierteln weiter zunehmen. Die Grundlage der extremen Rechten sind Rassismus und Islamophobie – was eng mit der französischen Kolonialgeschichte verknüpft ist. Und diese Entwicklung hat natürlich nicht nur mit dem Wahlausgang zu tun. Sie ist ein Prozess, der seit vielen Jahren zu beobachten ist und zu dem Macrons Politik maßgeblich beigetragen hat.
Mit der Gründung der »Neuen Volksfront« gab es vergangenes Jahr endlich eine Gegenbewegung gegen die Rechte. Was unterscheidet den »Nouveau Front Populaire« (NFP) von früheren Linksbündnissen, an denen sich Ihre Organisation nicht beteiligt hat?
Es gibt zwei Unterschiede: Zum einen sahen vergangenes Jahr alle die Notwendigkeit, die extreme Rechte zu stoppen. Zum anderen war der NFP mehr als eine Verbindung von Wahlparteien. Zwar waren die Abkommen zwischen den Parteiführungen Voraussetzung seiner Existenz, aber getragen wurde die Volksfront auch von sozialen Bewegungen und Gewerkschaften. Zum Beispiel von der feministischen Organisation »Planning familiale«, der antikolonialen jüdischen Plattform »Tsedek!«, von ATTAC und lokalen Gewerkschaftskomitees. Das war wie ein gesellschaftliches Magma. Kein linkes Wahlbündnis der letzten Jahrzehnte war mit diesem Projekt vergleichbar.
Nachdem die Mehrheit der sozialdemokratischen Abgeordneten im Dezember für den konservativen Premier Bayrou gestimmt hat, ist das Bündnis schon wieder zerbrochen. Was bedeutet das für den antifaschistischen Widerstand?
An einigen Orten gibt es weiter lokale Zellen des NFP, aber ja: Im Großen und Ganzen ist das Bündnis zerfallen. Die Verantwortung dafür tragen die linken Parteiführungen – der Sozialisten, Kommunisten, Grünen und teilweise auch des »France Insoumise«. Sie brauchten die Volksfront, um bei den Parlamentswahlen Wahlkreise erobern zu können. Aber die gesellschaftliche Mobilisierung hat sie offenkundig nicht weiter interessiert.
Was steckt hinter der Entscheidung der PS, aus dem Bündnis auszuscheren? War das der klassische »sozialdemokratische Verrat« – oder doch etwas komplexer?
Es war natürlich komplexer. Die Sozialdemokratie hat gemacht, was sie immer macht: Sie ist ein Bündnis mit einer Partei des Staatsapparats eingegangen, um nicht reformistisch sein zu müssen. Denn beim Reformismus würde es darum gehen, der »Marktwirtschaft« soziale und ökologische Veränderungen abzutrotzen. Zum anderen hat der Zerfall des NFP mit dem französischen Präsidialsystem zu tun. Obwohl die Linke die Wahlen gewonnen hat, konnte Präsident Macron einen Rechten als Regierungschef einsetzen. Und nun sitzen alle – auch die Linken – der Illusion auf, dass sich mit einem Sieg bei den Präsidentschaftswahlen die großen Probleme lösen ließen. Deshalb unternehmen »La France Insoumise« und PS alles, um ihre Kandidaten Jean-Luc Mélenchon und François Hollande in Stellung zu bringen. Das Gute an Frankreich allerdings ist, dass es eine lebendige außerparlamentarische Bewegung gibt, wie sie sich in den Gelbwesten-Protesten oder im Kampf gegen die Rentenreform gezeigt hat.
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Von außen betrachtet hat sich »La France Insoumise« weiterentwickelt. Der Partei Mélenchons ist es gelungen, migrantische und antirassistische Positionen viel sichtbarer zu machen als früher.
Ja, ich würde sagen, dass die Partei Rückgrat bewiesen hat. Die großen Medienkonzerne, wie z.B. der Nachrichtenkanal CNews des Milliardärs Vincent Bolloré, schüren den Hass auf Araber und Linke. Auf dieser Achse findet die Rechtsentwicklung in Frankreich heute statt. Und »La France Insoumise« ist gegenüber dieser Stimmungsmache nicht eingeknickt, sondern hat sich in einigen Fragen – zum Beispiel zu Palästina und zur Islamophobie – radikalisiert. Das war vor einigen Jahren noch anders, als in »France Insoumise« ähnlich staatstragende Debatten geführt wie in der Linken in Deutschland. Als Problem sehe ich allerdings, dass auch bei ihr alles auf vorgezogene Präsidentschaftswahlen abzielt. Dabei liegt auf der Hand, dass die Krise viel zu tief und die Rechte viel zu stark ist, als dass Neuwahlen eine Lösung eröffnen könnten.
Wie könnte eine Strategie aussehen, um den Triumphzug der Rechten zu stoppen?
Vor allem gilt es, nicht zu verzweifeln. Das hört sich idiotisch an, ist aber wichtig. Im vergangenen Juni haben wir in Frankreich erlebt, dass sich der Wind drehen kann. Noch eine Woche vor dem zweiten Wahldurchgang war ein Sieg der »Neuen Volksfront« völlig unvorstellbar. Aber es gelang – weil es ein politisches Programm gab, das zwar nicht revolutionär war, aber doch konkrete soziale Verbesserungen beinhaltete. Für mich zeigt das, dass wir Einheit und Radikalität aktiv miteinander verbinden müssen. Das ist schwierig, aber alternativlos. Eine ermutigende Entwicklung in Frankreich sind die taktischen und strategischen Debatten, die vielerorts geführt werden – in Stadtvierteln, Gewerkschaften, den internationalistischen, feministischen und LGBTI-Bewegungen. Viele dieser Beziehungen waren bis vor kurzem unvorstellbar. Wir müssen begreifen, dass die Situation ein offener historischer Moment ist.
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