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Marzahner Platte: Leben zwischen Türmen
Ein historischer Streifzug durch Marzahn-Hellersdorf
Es hätte auch schlimmer kommen können», schrieb im Frühjahr 1989 ein unbekannter Marzahn-Bewohner. «Ich landete nicht auf den Ahrensfelder Äckern, schon jenseits der Stadtgrenzen und fernab der Zivilisation, sondern in der Otto-Winzer-Straße» der heutigen Mehrower Allee in Marzahn. Erst fünf Jahre zuvor seien dort die Baukräne den «wohnwütigen Werktätern» gewichen. Der Autor selbst wohne hier bei seiner Freundin, «um mir in meiner Altbaubude das Heizen zu ersparen». Der Text, der in einem selbstgedruckten Infoblatt der Offenen Jugendarbeit der evangelischen Kirche erschien, greift das Hauptmotiv auf, das so viele Menschen zum Umzug in die Trabantenstadt am Ostberliner Stadtrand bewog: nicht mehr in irgendeinem Abrisshaus in Prenzlauer Berg oder in Lichtenberg der Natur ein warmes Zimmer abringen zu müssen. Helle Räume und ein gefliestes Wannenbad schienen der Traum vieler Familien zu sein.
Doch ungeachtet der modernen Zentralheizung sind viele Menschen mit dem Leben im Plattenbau nicht warm geworden. So auch der BRD-Schriftsteller Ronald M. Schernikau, der Mitte der achtziger Jahre in die DDR übergesiedelt war und in einem riesigen Neubaublock wohnte, «sehr weiß, sehr viereckig, sehr hell», wie der damals 31-Jährige in einem Interview der Schriftstellerin Erika Runge sagte.
In dem vom RIAS ausgestrahlten Interview gab Schernikau preis: «Als ich meinen Antrag auf DDR-Staatsbürgerschaft stellte, bekam ich eine Wohnung zugeteilt, und die war eben in Hellersdorf. Alle Leute, die ʼne Wohnung wollten, kriegten eben ʼne Wohnung in Hellersdorf, weil: andere gab’s nicht. Hellersdorf hat 100 000 Einwohner, muss man dazu sagen, und diese 100 000 Personen können in Hellersdorf wirklich nur schlafen und einkaufen.» Und sterben. Ronald M. Schernikau verstarb kurz nach dem Interview an den Folgen von Aids. Im Gespräch mit Erika Runge räumte der Dichter aber mit einer tatsächlichen Legende auf. Die SED, sagte er, habe nach dem Krieg ein Land vorgefunden, das den Sozialismus nicht wollte. «Die Kommunisten mussten mit einem Land zurechtkommen, das im Grunde auf sie schiss.» Und umgekehrt eben auch. In allen DDR-Städten fände man am Rand «diese riesigen Hochhäuser, in denen man es praktisch gar nicht aushalten kann, weil die so hässlich und schrecklich sind. Da wurden einfach Wohnungen hingebaut, damit die Leute den Mund halten».
Was sie dann auch getan hätten, wie das genannte Infoblatt der evangelischen Jugendarbeit beklagte: Worte wie «Bitte», «Danke» und «Guten Tag!» oder «Entschuldigung» seien gänzlich aus dem Sprachgebrauch verdrängt worden. – Leben in Marzahn sei vielleicht das letzte große Abenteuer jener Zeit. «Jedes Mal, wenn ich mit der Straßenbahn nach Marzahn einfahre, überfällt mich ein regelrechtes Kasernenfeeling», zitiert das Blatt. Alles sehe trist, öde und provisorisch aus. Allerdings: «Es gibt auch Positives, zum Beispiel liegt hier keine Hundescheiße auf den Gehwegen.»
«Da wurden einfach Wohnungen hingebaut, damit die Leute den Mund halten.»
Ronald M. Schernikau Schriftsteller
Seither hat sich am Ostberliner Stadtrand manches geändert. In die leeren Wohnungen zogen vor allem Aussiedler aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Was es aber nicht mehr gibt, ist eine Offene Jugendarbeit der evangelischen Kirche. In Marzahn-Hellersdorf ist Gott kaum mehr noch als ein Gerücht. Die mediale Dauerpräsenz der evangelikalen «Kinder-Arche» ändert daran nichts. Wer auch immer Stütze-Empfänger fürs Fernsehen vor die Kamera kriegen will, am besten noch mit Familie, der meldet sich bei Pastor Siggelkow. Berichtet wird dann immer wieder über die «Arche» in der Ostberliner Betonwüste, über die verlorenen Kinder, die knapp davor sind, in Drogen, Pornografie und Gewalt abzustürzen. Wohl auch dank solcher Art Werbung gilt der Bezirk heute als Berliner Bronx, als Inbegriff des gescheiterten Ostens. Eine Diskussion aber über Armut und ihre Ursachen bleibt aus.
Die Omnipräsenz der «Arche»-Freikirche kann durchaus als das Ergebnis linker Schwäche gesehen werden. Eigentlich sollte es Aufgabe der Linken sein, dafür zu sorgen, dass so viel von Armut betroffene Menschen wie möglich ein besseres Leben führen. Vielleicht ist das Problem aber auch die geistige Armut. Im vergangenen Jahr wählten über ein Viertel der Leute hier die AfD ins Europaparlament. Die Rechten sind gefühlt überall; in der Kaufhalle hört man sie reden, in der Elternversammlung, und selbstverständlich sitzen sie in der Straßenbahn. Trotz allem: es gibt Leute, die in Marzahn-Hellersdorf ihr Glück gefunden haben und hier nie wieder wegwollen.
Dieser Stadtbezirk war früher einmal so was wie das Bayern der Linkspartei. Mancher Funktionär wird noch mit Wehmut an den Wahlabend zur Bundestagswahl 2009 denken, als seine Partei vor Ort 40,8 Prozent der Stimmen einfuhr! Ganze sieben Prozent blieben davon bei der letzten Europawahl übrig. Die Linke in Marzahn-Hellersdorf weit abgeschlagen hinter AfD, BSW, CDU und SPD.
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Wie ist dieser Niedergang zu erklären? Von Petra Pau, die über zwei Jahrzehnte den Wahlkreis im Bundestag vertreten hat, war nach ihrem erklärten Rückzug noch keine selbstkritische Reflexion zu vernehmen. Das Milieu, von dem früher ihre Politik in Marzahn-Hellersdorf getragen wurde, gibt es kaum noch. Ihre alten Wähler sind gestorben, fortgezogen oder bei der AfD.
Katalin Gennburg, die als Direktkandidatin der Linkspartei Petra Paus Nachfolge antritt, ist für ihren politischen Kompass bekannt. Als Feministin gilt sie als antikapitalistisch durch und durch. Noch bei der Bundestagswahl 2021, als mit 4,9 Prozent fast die Hälfte der Bundestagsmandate verloren ging, war am selben Tag in Berlin auch das Abgeordnetenhaus gewählt worden, wo sich die Verluste für Die Linke in Grenzen hielten. Der studierten Stadtforscherin Gennburg war damals das Kunststück gelungen, das Direktmandat in Treptow-Nord zu verteidigen und ganze 1000 Stimmen hinzuzugewinnen. Unterwegs im Haustürwahlkampf oder bei den streikenden BVG-Angestellten will Gennburg am 23. Februar die Verluste im Wahlkreis wenigstens in Grenzen halten. Gleiche Löhne und Renten fordert sie und selbstredend die Achtung vor der Lebensleistung der Menschen in Ostdeutschland, aber auch eine «Aufarbeitung des Ausverkaufs durch die CDU-Treuhand». Vielleicht sollte die Linke auch mal die eigene Geschichte aufarbeiten, nicht zuletzt den Niedergang in Marzahn-Hellersdorf.
Katalin Gennburg hört den Leuten zu. In den Gesprächen trifft die Vierzigjährige den richtigen Ton. Komplizierte Sachverhalte versteht sie mit einfachen Worten zu erklären. Bisweilen aber hapert es am Text, so geschehen bei der Ossi-Karaoke, unlängst im Stadtteiltreff der Arbeiterwohlfahrt (auch das ein Wahlkampftermin). Beim Lied von Veronika Fischer sang die Kandidatin: «Auf der Wiese haben wir gelegen/und wir haben Gras geraucht», statt «Gras gekaut» wie im Original. Der Beifall war ihr sicher.
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