- Kommentare
- Internet
Soziale Medien: Der Mythos Desinformation
Tragen soziale Medien dazu bei, dass Demokratiefeinde immer mehr Zuspruch erhalten? Anne Roth klärt auf.
Alle Jahre wieder... steigt vor wichtigen Wahlen das Gespenst der Desinformation aus dem Nebel der Debatten über das Internet auf. Das EU-Parlament hat im Dezember darüber debattiert, wie groß das Risiko der Wahlmanipulation ist. Und im Bundestag ging es vergangene Woche zuerst im Digitalausschuss und dann bei einer aktuellen Stunde im Plenum darum.
Aktueller Anlass ist – neben der bevorstehenden Bundestagswahl – die Entwicklung der großen US-amerikanischen Social-Media-Plattformen nach der Wahl von Donald Trump. Seit deren Chefs bei der Amtseinführung direkt neben ihm saßen und durch Spenden und Erklärungen deutlich machen, dass sie beim Umgang mit Inhalten eine 180-Grad-Wende hinlegen, statt sich im Namen tatsächlicher Meinungsfreiheit dem Rechtsruck entgegenzustellen, wird deutlich, wovor die Netz-Community schon lange warnt: Social-Media-Plattformen in den Händen von Unternehmen sind keine öffentlichen Diskursräume, sondern: Unternehmen. Sie werden geleitet von Profitinteressen und sorgen dafür, dass sie die Rechte an allem besitzen, was dort gepostet wird. Sie entscheiden auch allein, wie damit umgegangen wird.
Anfang Januar kündigte Mark Zuckerberg an, dass bei Facebook, Instagram und Threads das 2016 eingeführte Fakten-Check-Verfahren beendet wird. Es soll wie schon bei »X« durch »Community Notes« ersetzt werden. Statt Prüfung durch Expert*innen und Nachrichtenagenturen nun also nachträgliche Anmerkungen von Nutzer*innen, die durch nichts legitimiert sind als durch die Zustimmung anderer Nutzer*innen derselben Plattform. Was soll da schon schiefgehen? Elon Musk steuert »X« und ruft in der »Welt am Sonntag« offen zur Wahl der AfD auf.
2016 wurde Trump zum ersten Mal gewählt. Es war das Jahr, in dem die Themen Wahlmanipulation und Desinformation Fahrt aufnahmen. Die politische Linke war entsetzt und fragte sich, wie es dazu kommen konnte, die Rechte lehnte sich grinsend zurück und wies jede Manipulation weit von sich. Mittlerweile halten 82 Prozent der Europäer*innen Nachrichten oder Informationen, die die Realität verzerrt darstellen oder gar falsch sind, für ein Problem für die Demokratie.
Anne Roth gehört zu den Pionierinnen linker Netzpolitik. Für »nd« schreibt sie jeden ersten Montag im Monat über digitale Grundrechte und feministische Perspektiven auf Technik.
Zweifellos und immer wieder belegt gibt es massive Versuche, manipulativ in die öffentliche Meinungsbildung einzugreifen. Jüngste Beispiele: Correctiv hat enthüllt, dass eine russische Operation mit dem Spitznamen »Storm-1516« seit drei Monaten in den Bundestagswahlkampf eingreift und dazu nicht weniger als 100 Fake-Nachrichtenseiten eingerichtet hat. Das »Bundestagswahl 2025 Monitoring« des Center für Monitoring, Analyse und Strategie gab bekannt, dass die AfD-Vorfeldorganisation »Ein Prozent« eine dezidierte Kampagne gegen die Linke betreibe mit dem Ziel, deren Einzug in den Bundestag zu verhindern.
Aber sind daran soziale Medien schuld? Anfang Dezember wurde vom »Observatory on Information and Democracy« die internationale Meta-Studie »Information Ecosystem and Troubled Democracy« zu den Themen Falsch- und Desinformation veröffentlicht, für die 2700 Studien zum Thema ausgewertet wurden. Die Studie wurde vergangene Woche in Berlin vorgestellt, und das überraschende Ergebnis ist, dass der Einfluss von Desinformation auf Wahlen und Demokratie gering sei. Aber nicht, weil es keine Beeinflussung gebe, sondern weil die Ursache eine andere sei. Das an der Studie beteiligte Berliner Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft (HIIG) schreibt: »Ein direkter Einfluss von Desinformation auf demokratische Prozesse konnte auch nach fünf Jahren nicht empirisch nachgewiesen werden. Stattdessen ist es die mediale und politische Thematisierung von Desinformation, die Misstrauen schürt und gesellschaftliche Prozesse destabilisiert. (..) Die pauschale These, soziale Medien und Desinformation würden unsere Demokratie zerstören, sei daher nicht haltbar.«
Das Problem fängt damit an, dass es gar keine feste Definition des Begriffs Desinformation gibt. Es scheint klar, was damit gemeint ist, aber so einfach ist es nicht. Falschinformation? Bewusste Lügen? Falsche Informationen, die von vielen verbreitet werden? Falsche Informationen, die von vielen verbreitet werden mit einem bestimmten Ziel? Zum Beispiel, um Meinungen zu verändern? Oder nur, um die öffentliche Meinung zu verändern?
Gehören dann nicht bestimmte Medien, Aussagen von Politiker*innen oder schlicht Wahlkampf auch dazu? Wie ist es mit dem vielzitierten Stammtisch, der auch in der Lage ist, die Stimmung im Dorf zu verändern? Oder beschreibt »Desinformation« nur das, was in sozialen Medien geschieht? Oder nur, wenn bestimmte Haltungen gezielt von Algorithmen unterstützt werden?
Jeanette Hofmann, Leiterin der Forschungsgruppe »Politik der Digitalisierung« am Wissenschaftszentrum Berlin und Ko-Gründungsdirektorin des HIIG, beschäftigt sich mit der Frage, »warum wir Desinformation derzeit so viel Beachtung schenken. Wenn man sich mal erinnert, der Begriff ist erst vor knapp zehn Jahren in der öffentlichen Diskussion aufgetaucht. Wenn man sich nun mal anguckt, welche Zeitschriften etwa beim Friseur herum liegen: die sind voller Desinformation. (..) Solange es um Königsfamilien und Schauspieler*innen geht, darf offenbar gelogen werden, so viel man will.« Ihre These: Nach der ersten Wahl von Trump und dem Brexit 2016 wurde nach Ursachen für diese Entwicklungen gesucht und dabei entstand das Narrativ, »dass Russland und China in politische Entscheidungen intervenieren und dass sie das mit Hilfe von Desinformation tun«.
Die Digitalisierungsforscherin denkt, dass auch die alten Massenmedien diese Sicht befördern, also dass die Welt außerhalb des klassischen Journalismus schlecht und manipulativ sei. Aus ihrer Sicht auch aus dem Grund, dass die sozialen Medien eine erhebliche Konkurrenz und Bedrohung für die »alten Medien« darstellen. »Und so werden soziale Netzwerke ganz im Sinne von »blaming the messenger« für Desinformation verantwortlich gemacht, obwohl gar nicht so viel dafür spricht.«
Hofmann weist darauf hin, dass Desinformation vor allem in den Ländern verbreitet sei, in denen populistische Politiker*innen einflussreich sind und die Demokratie in eine autokratische Regierungsformen kippt, nämlich in den USA, in Ungarn, Polen, Brasilien oder Großbritannien. Viel weniger bekannt ist, wie Desinformation tatsächlich wirkt und wovon Menschen tatsächlich beeinflusst werden, die zu populistischen oder rechtsradikalen Meinungen neigen.
Hofmann meint, dass der Wahrheitsgehalt von Inhalten, der zu wenig geprüft werde, dabei gar nicht so zentral sei. Das Problem sei nicht, dass Menschen nicht in der Lage seien, sich ein Urteil zu bilden, sondern dass ihre Motive für das Verbreiten schlicht andere seien. Desinformation sei eine »radikalisierte Form des Widerstands gegen die Diskurse der politischen Elite, denen kein Glauben mehr geschenkt und das Vertrauen entzogen wird«.
Dabei spielt auch das Erleben des gemeinsamen Handelns und der politischen Wirkung eine Rolle. Und daran sind genauso auch populistische Politiker*innen beteiligt, in erster Linie Donald Trump, dem der Wahrheitsgehalt seiner Aussagen offensichtlich vollkommen egal ist, aber auch jemand wie Friedrich Merz, der in der vergangenen Woche im Bundestag von »täglich stattfindenden Gruppenvergewaltigungen aus dem Asylmilieu« sprach. Die gibt es aber nicht.
Und deswegen müssen sich auch die etablierten Medien nach ihrer Rolle bei der Verbreitung von Desinformation fragen. Wenn sie politische Lügen und Verschwörungserzählungen mit Blick auf die Klickzahlen verbreiten oder suggestiv immer wieder fragen, ob dies oder jenes wahr sei, obwohl eine einfach journalistische Recherche zum Ergebnis führen könnte, dann sind sie Teil des Problems – und nicht das Internet.
Wenn am Sonntagabend in der wichtigsten deutschen Talksendung die Spitzenkandidatin der AfD, der stellvertretende Chefredakteur der »Welt« und die Präsidentin des Verbandes der Automobilindustrie eingeladen sind, aber niemand, der oder die bei den Demos gegen Rechts auf der Straße war oder gerade ein Bundesverdienstkreuz aus Protest gegen die CDU zurückgegeben hat, dann geht es offenbar weniger um ausgewogenen Journalismus als mehr um die Beförderung einer bestimmten politischen Haltung im öffentlichen Diskurs. Die Grenze zur Desinformation ist fließend.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.