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Hip schon vor den Hippies
Vor 100 Jahren wurde die Leipziger Jazzpianistin Jutta Hipp geboren
Dass das Leben von Jutta Hipp noch nicht verfilmt wurde, verwundert sehr. Sie war eine der ersten Jazzpianistinnen überhaupt. Mit ihr ließe sich vom Aufstieg und Fall eines Underdogs erzählen, mit einigen unerwarteten Wendungen. Der ebenfalls aus Leipzig stammende Klarinettist Rolf Kühn sagte einmal, sie sei schon vor den Hippies hip gewesen.
Geboren wird Jutta Hipp am 4. Februar 1925 im damals kulturell aufblühenden Leipzig. Schon früh bekommt sie klassischen Klavierunterricht. Im Alter von 15 Jahren kommt sie das erste Mal mit Jazz in Kontakt, mehr oder weniger heimlich. Denn die Musik gilt unter den Nazis als »entartet«. Dennoch spielt sie bereits zu der Zeit in einer Amateurjazzband im illegalen Hot Club Leipzig. Tagsüber studiert sie Grafik an der HGB.
Und auch nach dem Krieg gilt Jazz als genuin US-amerikanische Musik in der damaligen SBZ als nicht opportun. Hipp zieht es 1946 nach Bayern an den Tegernsee. Dort tritt sie in Tanzlokalen und Offiziersclubs vor US-amerikanischen GIs auf, die sich begeistert zeigen von Hipps Spielfreude und Virtuosität. Nach einer Liaison mit einem afroamerikanischen US-Soldaten bekommt sie ihren Sohn Lionel. Doch Mutter – noch dazu eines schwarzen Kindes – und freischaffende Künstlerin in einem sein? Damals undenkbar. Und so gibt sie Lionel kurz nach der Geburt ab.
Als Jutta Hipp 1952 nach Frankfurt am Main geht, um in der Band des österreichischen Saxofonisten Hans Koller mitzuwirken, gilt sie als eine der talentiertesten Jazzpianistinnen Europas. 1953 gründet sie ihr eigenes Quintett und tritt beim ersten Deutschen Jazz Festival auf. Doch Mitte der 1950er Jahre zieht sie ins internationale Epizentrum des Jazz, nach New York. Auf Vermittlung des einflussreichen Jazz-Journalisten und Produzenten Leonard Feather unterschreibt sie beim legendären Jazzlabel Blue Note, das 1939 von den beiden deutsch-jüdischen Jazz-Enthusiasten Alfred Lion und Francis Wolf nach ihrer Flucht aus Deutschland gegründet worden war. Auf Blue Note ist Hipp die erste Europäerin.
Auch in New York zeigt man sich zunächst begeistert von »Europe’s First Lady of Jazz«. Gefördert vom Pianisten Horace Silver entwickelt sie einen in Richtung Bebop beschleunigten Cool Jazz. Es ist der Höhepunkt ihrer Karriere, dauert aber nur kurz. Die Engagements nehmen ab, denn die musikalische Konkurrenz in der US-Metropole ist ungleich größer als in Deutschland, wo Jazz zu jener Zeit noch ein absolutes Nischenprodukt ist. Hinzu kommen Lampenfieber und Existenzängste, denen sie wiederum mit exzessivem Alkoholkonsum beizukommen versucht.
Dokumentiert ist zudem ein Vorfall aus dem Jahr 1956, von dem man annehmen kann, dass er ihre Unsicherheiten noch zusätzlich befeuert hat: Der große Jazzschlagzeuger Art Blakey holt sie bei einem Auftritt auf die Bühne und fordert sie zu einer gemeinsamen Impro-Einlage heraus. Hipp, bereits merklich angetrunken, lässt sich darauf ein, kann aber schon nach wenigen Takten das von Blakey vorgegebene Höllentempo nicht mehr halten. Daraufhin wird sie von Blakey, der eigentlich als Jazzpädagoge galt, vor dem Publikum bloßgestellt: »Now you see, we don’t want these people from Germany come over here and take our jobs away.«
Schließlich nimmt Hipp Ende der 1950er einen Job als Näherin in einer Kleiderfabrik im Bezirk Queens an. In Jazzclubs tritt sie nur noch gelegentlich an Wochenenden auf. 1960 wendet sie sich gänzlich von der Bühne ab und beendet ihre Musikkarriere. Fortan wird die Malerei ihre neue künstlerische Leidenschaft. Als ihre spätere Biografin Ilona Haberkamp 1986 Hipp in ihrer New Yorker Wohnung besucht, zeigt sie sich verwundert, dass sie gar kein Klavier mehr vorfindet. »Was soll ich damit, wenn ich nicht mehr spiele?«, antwortet Hipp. Trotzdem macht sie Fotos von Jazzmusikern in kleinen Clubs, die teilweise in Jazzmagazinen gedruckt werden. Als sie 2003 in New York an Krebs stirbt, weiß kaum noch jemand, dass sie selbst einmal eine bekannte Jazzmusikerin gewesen war. Nur Nerds und Auskenner können mit ihrem Namen etwas anfangen, 2011 taucht sie beispielsweise in einem Roman von Thomas Meinecke auf. 2022 erscheint dann die Biografie »Plötzlich Hip(p)« von Ilona Haberkamp.
Das Interesse an ihr scheint langsam zu wachsen, auch in ihrer Heimatstadt Leipzig, die sie mit 21 Jahren verlassen hat. Im Südosten der Stadt gibt es seit 2011 einen Jutta-Hipp-Weg und seit 2023 wird vom Jazzverband Sachsen der »Jutta-Hipp-Preis« verliehen. Nun, anlässlich ihres 100. Geburtstages, wird zudem eine Gedenktafel zu Ehren Hipps eingeweiht. Vielleicht gibt es über diese große Pianistin irgendwann auch einmal eine Netflix-Serie?
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