Hamburger Lenzsiedlung: Problemviertel war gestern

Kein sozialer Brennpunkt sondern lebenswerter als sein Ruf

  • Guido Sprügel, Hamburg
  • Lesedauer: 7 Min.
Mittlerweile sind in der Lenzsiedlung im Hamburger Stadtteil Eimsbüttel viele Hochhäuser saniert
Mittlerweile sind in der Lenzsiedlung im Hamburger Stadtteil Eimsbüttel viele Hochhäuser saniert

Hochhaus, Brennpunkt, Ghetto. Dieser Dreiklang ertönt oft, wenn es um Hochhausgebiete in Deutschland geht, die in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts gebaut wurden. Nach einem kurzen Hype und dem Charme des Neubaus verkamen viele Viertel zumindest in Westdeutschland zu Problemvierteln.

Die Lenzsiedlung, mitten im quirligen Stadtteil Eimsbüttel gelegen, hat eine ähnliche Geschichte. In zwei Bauphasen entstand das Viertel unter dem städtebaulichen Leitbild »Urbanität durch Dichte« in zwischen 1976 und 1984. Im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus entstanden so mehr als 1000 Wohnungen. Ende der 1990er Jahre war die Siedlung dann für Gewalt, Kriminalität und Drogen berüchtigt. Bis heute hat sich dieser Ruf erhalten. Fragt man Hamburger nach der Lenzsiedlung, hört man oft, das sei doch das »Problemviertel«.

Doch in Wirklichkeit hat sich viel verändert. »Unser Viertel ist ein echt lebenswerter Ort. Hier leben Menschen aus über 60 Nationen friedlich zusammen. Ich koche mittlerweile international«, erzählt Manuela Pagels begeistert. Seit fast 30 Jahren lebt die 64-Jährige nun schon hier. »Als ich damals an der Siedlung vorbeifuhr, dachte ich, da möchte ich im Leben nicht wohnen wollen«, sagt sie schmunzelnd. Und doch zog sie Ende der 90er genau hier her. Und das, obwohl sie damals noch die Gewalt der Jugendgangs mitbekam.

Heute schwärmt sie von der guten Nachbarschaft und immer wieder vom Verein Lenzsiedlung. Gegründet wurde der Nachbarschaftsverein schon während der Bauphase im Jahr 1977. Von den damaligen Gründern ist heute niemand mehr dabei. Dafür ist der Verein um so präsenter. Und ein wichtiger Faktor für das lebenswerte Umfeld der rund 3000 Bewohner.

Manuela Pagels lebt seit fast 30 Jahren in der Lenzsiedlung und arbeitet im bereits in der Bauphase gegründeten Bewohnerverein. Sie findet die internationale Gemeinschaft hier sehr angenehm.
Manuela Pagels lebt seit fast 30 Jahren in der Lenzsiedlung und arbeitet im bereits in der Bauphase gegründeten Bewohnerverein. Sie findet die internationale Gemeinschaft hier sehr angenehm.

Manuela ist seit 13 Jahren bei dem Verein angestellt. Vorher hat sie im Bereich der Behindertenhilfe gearbeitet, verlor dann aber den Job und begann als Reinigungskraft beim Verein. Als der Hausmeister ging, konnte Manuela Pagels die Stunden übernehmen und arbeitet heute nach eigener Aussage als »Mädchen für alles«. Die Angebote des Vereins hat sie aber schon als junge Mutter wahrgenommen. Mit ihrem kleinen Sohn war sie beim Baby-Mutter-Sport und im internationalen Frauencafé. »Da waren damals viele afghanische Frauen. Die waren ganz erstaunt, als ich kam und meinten, es sei ein internationales Frauencafé. Da hab ich denen gesagt, dass ich auch zu internationalen Frauen dazugehöre. Daraus entwickelte sich ein bunter Freundeskreis«, erzählt Pagels. Die Jugendgangs der 90er Jahre sind längst Geschichte. Heute könne man problemlos durchs Viertel laufen – zu jeder Tages- und Nachtzeit, wie Manuela betont.

Fabian Heinze hat die ›wilden‹ Jahre des Viertels nicht mehr miterlebt. Er wurde erst 1992 geboren und hat seine Kindheit im Schatten der Lenzsiedlung im schickeren Altbauteil von Eimsbüttel verbracht. In der Grundschule hatte er noch Freunde aus der Lenzsiedlung, doch nach dem Wechsel zum Gymnasium verliefen sich die Freundschaften. Von Vorurteilen gegenüber der Siedlung hat er jedoch bereits als Kind etwas mitbekommen. »Ich war aber gerne bei meinen Freunden in der Siedlung. Die Geburtstage wurden zwar anders gefeiert als im bildungsbürgerlichen Eimsbüttel, aber ich habe mich da wohl gefühlt«, erzählt Heinze, der später Sozialökonomie studierte.

Vor rund zehn Jahren begann er als Honorarkraft beim Verein Lenzsiedlung. Kurze Zeit später zog er mit zwei Studienfreunden in die Siedlung. Ein Sprung. Heinze vermutet, dass sie die erste Studi-WG im Viertel waren. Für knapp 1300 Euro konnten sie 2016 eine 110 Quadratmeter große Wohnung ergattern.

Fabian Heinze ist nach seinem Studium geblieben. Seine Freunde auch. Seit vier Jahren ist er nun beim Verein als Sozialarbeiter für die offene Kinder- und Jugendarbeit angestellt. Wobei die Jobbeschreibung seine wirklichen Tätigkeiten nicht genau erfasst. Heinze ist auch Hausmeister und Ansprechpartner für alle Facetten des Zusammenlebens. In den Räumen des Vereins bietet er mit seinen Kollegen Tanzkurse, Boxtraining, Fußball, Hausaufgabenhilfe und sogar Jugendreisen an. Im vergangenen Jahr waren sie in Berlin und in Stralsund. 300 Kinder nehmen die Angebote im Schnitt jede Woche wahr.

Lenzsiedlung e.V. ist dabei heute beinahe eine kleine Siedlung neben der Siedlung. Ein kleines Konglomerat an Häusern hat sich gebildet. In der Mitte ein Restaurant, das jeden Tag einen Mittagstisch anbietet, daneben Treffpunkte für Kinder und Jugendliche und Räumlichkeiten für Tanz- und Sportangebote. Im Lenztreff begegnen sich Familien und finden Beratungsangebote. Im Bürgerhaus und Seniorentreff trifft sich Jung und Alt. Es gibt Rechts- und Schuldnerberatung, aber auch eine Beratungsstelle für Schwangere.

Trotz aller Aufwertung – ein Viertel der Reichen und Schönen ist die Lenzsiedlung auch heute nicht. Rund 35 Prozent der Bewohner beziehen Transferleistungen, und die Wohnverhältnisse sind oft beengt. »Bei uns kommen viele Kinder einfach auch gern vorbei, um der Enge der eigenen Wohnung zu entfliehen«, sagt Fabian Heinze. Und sie leiden mitunter auch unter der Stigmatisierung, aus der Lenzsiedlung zu kommen. »Sie nennen sich selbst gern die Lutterother«, erzählt Heinze. Benannt nach der U-Bahn-Station Lutterothstraße, die direkt am Rande des Viertels gelegen ist.

Von den umliegenden, mittlerweile sehr hochpreisigen Vierteln trennt die Lenzsiedlung eine unsichtbare Grenze. Kaum jemand verirre sich von den benachbarten Straßen hierher, berichtet Heinze. Die Schulen in der direkten Nachbarschaft haben immer noch keinen so guten Ruf.

Diese Grenze hat auch Jasmin Kock immer gespürt. Die 34-Jährige ist im Viertel aufgewachsen. Seit 1995 lebt sie dort und hat die Aktivitäten des Vereins lange nur am Rande mitbekommen. Sport war ihre Leidenschaft und lebensbestimmend. Ihre Mutter war regelmäßig beim Mutterfrühstück. Vor einigen Jahren wurde Kock dann auf dem Nachbarschaftsfest angesprochen, ob sie nicht Tanzkurse in den Räumen des Vereins anbieten wolle. Aus der Idee ist eine feste Instanz geworden.

Heute leitet Jasmin Kock, die als Erzieherin in einer nahegelegenen Grundschule arbeitet, vier Hiphop-Tanzgruppen für Kinder und junge Menschen im Alter zwischen vier und 25 Jahren. Mit den Größeren hat sie bereits an den deutschen Meisterschaften teilgenommen. Immer wieder begegnen der Gruppe dabei Ressentiments. »Einmal hieß es, als wir zu spät zu einem Wettbewerb kamen: Die kommen aus der Lenzsiedlung und können sich kein Ticket leisten«, erzählt Kock. Rassistische Beleidigungen gegenüber den Tänzerinnen sind ebenfalls an der Tagesordnung. »Da kam der Kommentar, dass eine Tänzerin zu schwarz für die Bühne sei. Man könne sie nicht sehen.« Mit Zusammenhalt der Tanzgruppe baue man sich gegenseitig wieder auf, sagt Kock.

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Die junge Frau ist in der Siedlung geblieben. Klar, es gebe auch mal zu laute Nachbarn, aber sie liebt ihr Viertel. In den letzten Jahren beobachtet sie aber auch eine Veränderung in eine andere Richtung. Da viele Wohnungen aus der Sozialbindung gefallen sind, ziehen langsam auch wohlhabendere Mieter nach. In ihrem Haus ist jüngst eine Ärztin eingezogen. Ein Novum.

Eine mögliche Gentrifizierung treibt auch Ralf Helling um. Der Geschäftsführer des Vereins koordiniert die Aktivitäten rund um das Viertel. Durch die Lage im Herzen des ansonsten begehrten Stadtteils Eimsbüttel rückt auch die Lenzsiedlung verstärkt in den Fokus von Personen mit mittlerem Einkommen.

Helling kennt das Viertel und seine Geschichte schon lange. »Es ist längst kein sogenannter Brennpunkt mehr, auch wenn es in Fernsehproduktionen häufig noch so erscheint«, erzählt er lächelnd. Wenn wieder mal ein Team von Produktionen wie »Großstadtrevier« anrückt, werden zunächst alle Blumen »rausgerupft« und das Viertel extra »ghettomäßig« zurechtgemacht. Es würden bewusst nur unsanierte Bäder gezeigt, die Blumen nach dem Dreh wieder gepflanzt. Ralf Helling sieht diese Inszenierungen entspannt, wenngleich sie alte Vorurteile manifestieren: triste Hochhausatmosphäre. Die hat das Viertel aber schon seit rund zehn Jahren nicht mehr.

Von 2000 bis 2012 war die Lenzsiedlung einbezogen in das Rahmenprogramm Integrative Stadtentwicklung. »Ich war richtig begeistert, als die dunklen Kacheln der Fassaden auf einmal weg waren und die Häuser hell erstrahlten«, erzählt Manuela Pagels. Isabel Hassan hat diese Veränderung auch bewusst erlebt. Sie lebt seit 33 Jahren in der Siedlung und ist, nachdem sie kurz weggezogen war, wiedergekommen. Schon seit ihrer Kindheit hat sie die Angebote des Vereins wahrgenommen. Vom pädagogischen Mittagstisch bis hin zur Hausaufgabenhilfe und dem offenen Treff. Ihr ältester Sohn wohnt zwar mittlerweile knapp 15 Minuten entfernt, ist aber auch beinahe täglich in der Siedlung.

»Der Verein ist ein ganz wichtiger Faktor für das gute Zusammenleben hier«, betont Hassan. Sie kann sich die Lenzsiedlung ohne ihn nicht vorstellen. Umso wichtiger ist es, dass die Finanzierung gesichert ist. Darum kämpft Helling jedes Jahr. Sicher ist sie nie. Gerade wenn sich der politische Wind dreht. Bereits vor einigen Jahren hat die AfD eine Anfrage zur Lenzsiedlung gestellt. Wie viele Migranten dort leben würden? Und wie es um die Anzahl der Ratten bestellt sei, wollte die Partei wissen.

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