Räumungsmetropole Berlin

2024 wurden in der Hauptstadt fast 7000 Räumungsklagen verhandelt

Zwangsräumungen sind nur die Spitze des Eisbergs – aus Angst, die Wohnung zu verlieren, dulden Mieter*innen mehr als sie rechtlich müssten.
Zwangsräumungen sind nur die Spitze des Eisbergs – aus Angst, die Wohnung zu verlieren, dulden Mieter*innen mehr als sie rechtlich müssten.

Sie sind der Albtraum aller Mieter*innen: Räumungen. Dass sie stattfinden, steht außer Frage. Aber wie oft sie passieren, ist gar nicht so leicht zu beantworten. Während Zwangsräumungen, also Räumungen unter Zuhilfenahme eines Gerichtsvollziehers und im Zweifel der Polizei, statistisch erfasst werden, ist das in Fällen, in denen Mieter*innen nach einem Räumungsurteil ihre Wohnung ohne Zwangsvollstreckung verlassen, nicht der Fall.

Auf eine Anfrage der Grünen-Abgeordneten Katrin Schmidberger und Taylan Kurt hat der Senat eine äußerst unvollständige Übersicht vorgelegt. Er bezieht sich dabei auf Zahlen der Sozialen Wohnhilfen der Bezirke. Diesen werden Räumungsklagen und Räumungstitel von Gerichten gemeldet, wenn sie aufgrund von Mietschulden erfolgen. Und die Zahlen sind gerade wegen ihrer Unvollständigkeit erschreckend. 2024 wurden ohne Angaben der Bezirke Friedrichshain-Kreuzberg, Treptow-Köpenick und Reinickendorf, die keine statistisch auswertbaren Daten haben, 1385 Räumungstitel erstellt.

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Die Gesamtzahl der Räumungen dürfte insgesamt allerdings wesentlich größer sein. Denn Gründe, wegen derer Eigentümer*innen Leute aus ihren Wohnungen schmeißen, gibt es viele. So beobachtet der Berliner Mieterverein (BMV) eine Zunahme von Verfahren aufgrund von Eigenbedarfskündigungen, die aber nirgends systematisch erfasst werden. Der BMV hat deswegen begonnen, eigene Zahlen zu erheben. Wibke Werner, Geschäftsführerin des Mietervereins sagt im Gespräch mit »nd«, dass sich dieses Unterfangen aber sehr schwierig gestalte. Denn nicht alle Mieter*innen, die eine Eigenbedarfskündigung erhalten, melden sich beim Mieterverein.

Werner weist darauf hin, dass nur ein Teil der vielen Wohnungskündigungen vor Gericht landet. »Viele Mieter*innen fürchten die gerichtliche Auseinandersetzung«, so Werner. Aber nach einer Kündigung bleibt Mieter*innen oft nichts anderes übrig: »Auf dem angespannten Wohnungsmarkt wissen viele einfach nicht wohin.« Eine Ersatzwohnung zu finden, ist oft unmöglich. Dabei ist in ein Gerichtsverfahren zu gehen nicht ohne Risiko: Wenn Mieter*innen ein Verfahren verlieren, kommen zum Verlust der Wohnung auch noch hohe Gerichts- und Anwaltskosten hinzu. Auch deswegen, so Werner, würden viele Mieter*innen die oft zu niedrigen Abfindungszahlungen der Vermiet*innen akzeptieren und ausziehen, bevor die Vermieter*innen auf Räumung der Wohnung klagen würden.

Trotzdem ist die Zahl der gerichtlichen Räumungsverfahren erschreckend hoch. Eine systematische Erhebung durch die Berliner Amtsgerichte finde zwar nicht statt, wie der Senat mitteilt. Aber mithilfe eines IT-Verfahrens konnten sie zumindest einige Zahlen ermitteln, die die tatsächliche Größenordnung erahnen lassen. Laut dieser Auswertung sind 2024 ganze 6948 Klagen in Mietsachen eingegangen, die auf eine Räumung abzielten.

Die wohnungspolitische Sprecherin der Grünenfraktion im Abgeordnetenhaus, Katrin Schmidberger, kritisiert im Gespräch mit »nd«, dass weder erfasst wird, wie viele Räumungen es gibt, noch aus welchen Gründen diese erfolgen: »Der Senat geht nach dem Motto ›Was ich nicht sehe, darum kümmere ich mich nicht‹ vor«, bemängelt sie. Dabei könnte das Land verfügen, dass diese Daten gesammelt werden, ist sich Schmidberger sicher. »Es muss Licht ins Dunkel gebracht werden, denn Räumungen sind ein wachsendes Problem in der Stadt«, fordert die Oppositionspolitikerin.

Der angespannte Wohnungsmarkt und die Angst vor Wohnungsverlust und Klagen hat aber schon bevor es überhaupt zu solchen Verfahren kommt, Folgen. »Wir haben den Eindruck, dass es bei den Mieterinnen und Mietern eine sehr große Zurückhaltung gibt, gegen ihre Vermieter vorzugehen«, so Wibke Werner vom BMV. Wenn es etwa um die Durchsetzung der Mietpreisbremse geht, eigentlich absurd. Denn wenn Vermieter eine zu hohe Miete verlangen, brechen sie das Gesetz. »Aber nicht wenige verzichten darauf, die Miete zu mindern, aus Angst, dann aus der Wohnung geklagt zu werden.« Sie zahlen dann dauerhaft eine eigentlich illegal hohe Miete.

Während ein Großteil der gerichtlichen Verfahren von privaten Eigentümern betrieben wird, sind auch die landeseigenen Wohnungsunternehmen (LWU) nicht untätig. Für diese liegen auch konkrete Zahlen vor: 2024 führten insgesamt die sechs Unternehmen in Landesbesitz 1415 Räumungsklagen durch. Im gleichen Zeitraum wurden nach Angaben des Senats von den LWU 476 Räumungen durchgeführt. Das seien »Ausnahmefälle«, wie der Senat mitteilt. Nach Angaben der LWU würden Räumungen aufgrund von Mietrückständen sowie »sonstigem vertragswidrigem Verhalten« nur bei mangelnder Mitwirkung der Mieter*innen erfolgen. Denn die LWU seien gesetzlich dazu verpflichtet, fristlose Kündigungen durch Beratung und ähnliche Maßnahmen so weit wie möglich zu vermeiden.

»Räumungen sind ein wachsendes Problem in der Stadt.«

Katrin Schmidberger (Grüne)
Wohnunsgpolitische Sprecherin

Die Maßnahmen zur Unterstützung von geräumten Mieter*innen, egal ob von Privatvermietern oder den LWU, sind dürftig. Es gibt zwar den Kooperationvertrag zum »Geschützten Marktsegment« (GMS) zwischen Wohnungsunternehmen und dem Land Berlin, der sich das Ziel gesetzt hat, im GMS 2500 Wohnungen für Wohnungslose bereitzustellen. Aber dieses bereits 2022 beschlossene Ziel »konnte bisher noch nicht erreicht werden«, wie der Senat mitteilt.

Das ausgegebene Ziel sei ein Lippenbekenntnis, sagt die Grünen-Politikerin Schmidberger. Auch unter der rot-grün-roten Vorgängerkoalition habe man das Ziel ehrlicherweise nicht erreicht. »Deswegen fordern wir eine gesetzliche Verpflichtung für private Vermieter, auch für Wohnungslose Wohnraum anzubieten. Mit freiwilligen Selbstverpflichtungen kommen wir nicht weiter. Mit Absprachen kommt man offensichtlich nicht weiter.« BMV-Geschäftsführerin Wibke Werner sieht das genauso: »Eigentlich sollte es in einem Land wie Deutschland nicht möglich sein, in die Obdachlosigkeit zu räumen.«

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