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  • »Anarchistische Ökologien«

Vergangener Klimaschutz

Der Historiker Milo Probst spürt in der Geschichte »anarchistischen Ökologien« und anderen Naturverhältnissen nach

  • Markus Hennig
  • Lesedauer: 6 Min.
Das Bild »Au temps d’harmonie«, das der Postimpressionist Paul Signac 1895 fertigstellte, begreift Harmonie nicht als Gegenbegriff zur modernen Entfremdung, sondern als Vermittlung ihrer Widersprüche.
Das Bild »Au temps d’harmonie«, das der Postimpressionist Paul Signac 1895 fertigstellte, begreift Harmonie nicht als Gegenbegriff zur modernen Entfremdung, sondern als Vermittlung ihrer Widersprüche.

Angesichts stetig steigender Temperaturrekorde scheint der Klimawandel kaum noch abwendbar zu sein. Das vergangene Jahr war das heißeste seit Beginn der systematischen Aufzeichnungen, der Januar 2025 lag durchschnittlich 1,75 Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau. Neben der alarmierenden Hitze in manchen Gebieten verstärkten sich auch andere Extremwetter-Phänomene, wie die Brände in Kalifornien, die Überschwemmungen in Valencia und die Taifune auf den Philippinen zeigten. Mit diesen Entwicklungen konfrontiert, scheint es naheliegend, entweder in schiere Ignoranz zu verfallen und die klimatische Krise zu leugnen, oder vor lauter Angst panisch zu werden.

Allerdings wäre Panik kein guter Ratgeber, will man dem Klimawandel politisch begegnen. So würde das bloße Überleben der menschlichen Spezies in den Vordergrund rücken. Worum es aber gehen müsste, ist ein gutes Leben und dieses ist bekanntlich nur in geteilter Freiheit zu haben. Die Möglichkeit einer Freiheit für alle ist eben nicht nur Beiwerk zum Überleben der Menschen, sondern stellt ihren eigentlichen Zweck dar. In diesem Sinne kann der Fortbestand der Umwelt nicht gegen die Frage menschlichen Zusammenlebens ausgespielt werden. Aber wie kann die Perspektive auf Befreiung mit der Berücksichtigung nicht menschlichen Lebens in Einklang gebracht werden? Unter anderem dieser Frage widmet sich der Historiker Milo Probst in seinem neuen Buch »Anarchistische Ökologien«.

Für einen sozialen Umweltschutz

Bereits 2021 hatte Probst einen Vorschlag in Buchform gemacht, wie die Klimabewegung sich selbst erneuern könnte. Darin argumentierte er »für einen Umweltschutz der 99 Prozent«, so der prägnante Buchtitel. Sein neues Buch stellt nun die überarbeitete Version seiner Doktorarbeit dar, die er 2022 an der Universität Basel einreichte. Gewissermaßen setzt er die Auseinandersetzung darin fort, insofern er die Fragen der Klimakrise in Zusammenhang mit sozialen Herrschaftsverhältnissen zu denken versucht.

Dafür begibt er sich in der Geschichte der anarchistischen Bewegung auf Spurensuche, und sucht nach »Weisen (…), in denen Nicht- oder Mehr-als-Menschliches in ein radikales Projekt der Befreiung eingebunden war«. Das Interessante dieses Ansatzes besteht nun darin, dass er diese Frage an die vergangene Moderne richtet, also an jene Zeit, die doch meist als Ursprung der Entfremdung von der Natur betrachtet wird. Statt sie aber schlicht als Sündenfall zurückzuweisen, fragt Probst danach, wie in dieser Moderne Projekte der Befreiung ihr Verhältnis zur Natur entwarfen.

Dabei entdeckt er eine paradoxe Gleichzeitigkeit von Technologiebegeisterung und Naturverbundenheit, die er nicht einfach als logischen Widerspruch zurückweist, sondern deren Zusammenhang er im anarchistischen Denken an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert verstehen will. Denn in dieser Überschneidung liegt die Möglichkeit eines Klimaschutzes, der die soziale Frage mitdenkt.

Einheit von Technik und Natur

Die Technik wird in diesem Sinne als Bedingung für die Verwirklichung der natürlichen Potenziale angesehen. Allerdings sind dafür manche Techniken eher geeignet als andere und so bestand das Ziel der Anarchist*innen darin, jene Techniken zu fördern, die die Natur nicht zerstörten, sondern sich an ihrer Erhaltung als begrenzte Ressource orientierten. Eine derartige Technik wäre nicht nur als Ausbeutung zu betrachten, sondern als Möglichkeit für ein umweltschonendes und selbstbestimmtes Leben. Erst auf dieser Grundlage wäre überhaupt die Voraussetzung für ein freies Verhältnis gegenüber der Natur gegeben. Die Natur würde den Menschen dann nicht mehr einfach die Bedingungen des Lebens vorgeben, sondern die menschliche Gesellschaft hätte sich so weit von der Natur emanzipiert, dass sie in ein selbstbestimmtes Verhältnis zu dieser treten kann. In diesem Sinne ging es auch den anarchistischen Pädagog*innen nicht darum, die Natur zu brechen, sondern diese Natur in sich und um sich herum zu entdecken.

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Um diese Bewegung aufzuzeigen, versammelt das Buch eine Vielzahl von Positionen und scheut sich nicht, auch scheinbar Anekdotisches in die Darstellung einzubeziehen. So bespricht Probst beispielsweise die Überlegung von Élisée Reclus, einen riesigen Globus mit einem Durchmesser von 160 Metern auf einem Hügel von Paris zu bauen. Derartige Ausflüge funktionieren im Buch aber nicht als unnützes Wissen, sondern werden gekonnt eingesetzt, um Überlegungen und Ideen eine konkrete Anschaulichkeit zu geben. Der Globus, ein Koloss aus Eisen, Stahl und Glas, erscheint so als in modernste Materialien gegossene Vorwegnahme einer »zum Bewusstsein ihrer selbst gelangten Natur«.

Für neue Beziehungsweisen

Auffallend ist in Probsts Betrachtung die wohlwollende Lesart des historischen Materials. Er fragt stets danach, wie scheinbare Widersprüche so verstanden werden könnten, dass sie in den damaligen Praktiken Sinn ergeben. Dabei hält er sich meistens mit Kritik nicht zurück und problematisiert so beispielsweise die anarchistischen Siedlungspraktiken in Argentinien. Gerade weil die Siedler sich ihre Befreiung nur als radikalen Bruch mit allem Bestehenden vorstellen konnten, ignorierten sie bestehende Lebensformen, um ihre Siedlung als gänzlichen Neuanfang zu verstehen. Ihr Versuch der Befreiung aus der Herrschaft in Europa wurde so selbst zum Teil des kolonialen Herrschaftsprojekts außerhalb von Europa.

An anderen Stellen tritt die kritische Betrachtung der Praktiken und der möglichen Konsequenzen allerdings etwas in den Hintergrund. Die Gefahr eines Ansatzes, der im Einklang mit der Natur leben will, sieht Probst beispielsweise im Übergang zur Eugenik. Diese stelle eine gewisse Norm auf, nach der es die Natur zu fördern gelte, und werte anschließend daran jenes Leben ab, das nicht dieser Norm entspricht. Das Gegenargument von Probst besteht darin, dass eine derartige Festlegung selbst einem Verständnis von Natur widerspricht, das diese als unstillbare Bewegung versteht. Ob allerdings in der Natur als ständige Bewegung bereits die Negation von Herrschaft angelegt ist, mag bezweifelt werden.

Stattdessen könnte diese unstillbare Bewegung der Natur doch selbst wieder als Denkprodukt einer kapitalistischen Gesellschaft beschrieben werden. Denn in anderen Jahrhunderten wurde die Natur beispielsweise als zyklische Wiederkehr verstanden, die sich zwar immer wieder verändert, aber dabei stets die gleichen Formen annimmt. Darin deuten sich die Fallstricke eines positiven Bezuges auf natürliche Gegebenheiten an. Denn diese entpuppen sich nicht selten als Rückverlagerung der bestehenden Verhältnisse in die Natur, um daraus wiederum eine gewisse Notwendigkeit abzuleiten. Damit wird bisweilen jene menschliche Freiheit negiert, um deren Verteidigung es Probst gerade geht. Vielleicht lässt sich über »die Natur« nicht viel mehr sagen, als dass sie eine radikale Andersheit bildet, die sich aber nur in gesellschaftlichen Formen darstellen lässt.

Wohlwollende Leser*innen können über diese Ungenauigkeit aber hinweglesen, weil das Buch in seiner Anlage doch bereits einem romantisierten Verständnis der Natur widerspricht. Denn gerade, indem das Buch nach Ansätzen eines anderen Verhältnisses zur Natur in den historischen Dokumenten fragt, vermeidet es, eine vergangene Lebensweise einfach als natürlich zu interpretieren. Stattdessen sieht es dort die gleiche Sehnsucht nach einem rücksichtsvollen Umgang mit der Natur. Insofern sich die Vergangenheit damit als Projektion entpuppt, bleibt eine Rückkehr ausgeschlossen. Stattdessen kann auf die Frage fokussiert werden, wie unter den Bedingungen der Moderne ein freiheitlicher Umgang mit der Natur aussehen könnte. Dafür, dass sich für diese Aufgabe bereits Überlegungen auch in vergangenen Debatten finden lassen, liefert das Buch bedenkenswerte Belege.

Milo Probst: Anarchistische Ökologien. Eine Umweltgeschichte der Emanzipation. Matthes & Seitz 2024, 296 S., geb., 32 € (sowie Open Access).

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