Gespensterdebatte um die Atomkraft

Die Energiekonzerne wollen die stillgelegten AKW nicht wiederanfahren – Markus Söder schon

Das stillgelegte Atomkraftwerk Isar-2
Das stillgelegte Atomkraftwerk Isar-2

Markus Söder kann’s nicht lassen: Bei jeder sich bietenden Gelegenheit will der CSU-Chef Deutschland die Nutzung der bereits gestoppten Atomkraft schmackhaft machen. Und wartet dabei mit erstaunlichen Wendungen auf: Als Mitte April 2023 die letzten deutschen AKW stillgelegt wurden, forderte der bayrische Ministerpräsident den Bund auf, per Gesetz seinem Land den Weiterbetrieb des Reaktors Isar-2 zu erlauben. Im Dezember überraschte er bei einer Tschechien-Reise mit dem Vorschlag einer Kernenergie-Partnerschaft mit dem Nachbarn. Vor wenigen Tagen sprach er sich dann wieder für eine Reaktivierung der letzten drei abgeschalteten Meiler aus. Und verkündete ein technisches Wunder für die Endlagerung: Die Strahlungsdauer von Atommüll lasse sich von einer Million Jahre auf rund 800 Jahre verringern.

Letzteres geht auf eine Studie der TU München zurück, deren Ergebnisse in Fachkreisen stark angezweifelt werden. Der Tschechien-Deal ist ebenfalls unsinnig, da dortige AKW über den europäischen Strommarkt ohnehin mit Deutschland verbunden sind. Und das Wiederanfahren hierzulande ist kaum möglich, da dies erst in langwierigen Verfahren genehmigt werden müsste, es inzwischen an geschultem Personal fehlt, viel Geld benötigen und die ungelösten Atommüllprobleme noch verschärfen würde. Aus gutem Grund winken sämtliche Betreiber ab, auch der von Isar-2: »Der Rückbau hat längst begonnen, wichtige Teile sind demontiert, und die Anlage ist damit praktisch nicht mehr reaktivierbar«, teilte Preussen-Elektra mit. Ein Neubau in Deutschland würde übrigens mindestens zehn Jahre dauern und zweistellige Milliardensummen verschlingen. Weder Energieunternehmen noch Investoren stünden hierzulande bereit.

Es drängt sich daher der Eindruck auf, dass Söder auf der verzweifelten Suche nach einem eigenen Thema im Wahlkampf ist, um nicht ganz hinter Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz (CDU) zu verschwinden. Der Bayer muss die etwas anders tickende CSU-Wählerschaft mobilieren. Dies gelingt nach wie vor am besten in den Fußstapfen von Franz-Josef Strauß – der CSU-Übervater war wohl größter Fan der zivilen wie auch militärischen Nutzung der Kernenergie im Nachkriegsdeutschland.

Es drängt sich der Eindruck auf, dass Söder auf der verzweifelten Suche nach einem eigenen Thema im Wahlkampf ist.

Merz hingegen hält sich bei diesem Thema im Wahlkampf zurück. Auch im Wahlprogramm von CDU und CSU findet sich lediglich eine nebulöse Formulierung, man wolle prüfen lassen, »ob angesichts des jeweiligen Rückbaustadiums eine Wiederaufnahme des Betriebs der zuletzt abgeschalteten Kernkraftwerke unter vertretbarem technischem und finanziellem Aufwand noch möglich ist«. Indes liebäugelt die Union mit der Kernfusion. Diese Technologie steckt indes noch nicht mal in den Kinderschuhen: In der EU sollen erste Versuche frühestens in zehn Jahren in einem Versuchsreaktor anlaufen. Die FDP wiederum setzt auf den Markt und will den Betreibern die Entscheidung über eine Wiederinbetriebnahme überlassen. Lediglich die ultrarechte AfD spricht sich ohne Wenn und Aber für den Ausbau der Kernenergie aus, einschlielich der Nutzung der stillgelegten Reaktoren. Links der Mitte gibt es dagegen ein klares Nein. Auch Sahra Wagenknecht, die ansonsten wenig Probleme mit fossilen Energien hat, hält die Option Kernenergie als Lösung für die nächsten Jahre für »Unsinn«.

Energieexperten sind sich fast unisono einig in der Ablehnung eines Wiedereinstiegs in die Atomkraft. Auch was den Bau neuer Anlagen angeht. Das gilt selbst für die sogenannten Small Modular Reactors, mit denen einige IT-Konzerne aus den USA ihren gewaltigen Energiebedarf decken wollen. Die Mini-AKW sind auch nach Jahrzehnten nicht über die Pilotphase hinausgekommen. Die Behauptung von Befürwortern, AKW seien ein gutes Mittel gegen hohe Energiepreise, hat keine Grundlage: »Strom aus neu gebauten Kernkraftwerken ist teurer als Strom aus Wind- oder Solaranlagen«, sagt Malte Küper, Energieexperte des industrienahen Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln. Neben praktischen führt er auch systemische Erwägungen an: »Die Atomkraft ist darauf ausgelegt, möglichst durchgehend zu laufen. Sie ist kein idealer Partner der erneuerbaren Energien.« Um die schwankende Erzeugung aus Sonne und Wind auszugleichen, brauche es flexibel einsetzbare Reservekraftwerke.

Dies macht indes auch deutlich, dass die Kontroverse um Atomkraft in Deutschland eher eine Gespensterdebatte im Wahlkampf ist. Es geht darum, der Ampel-Regierung die stark gestiegenen Strompreise in die Schuhe zu schieben. So sagt CDU-Kandidat Merz, die Stilllegung der letzten drei AKW sei ein »schwerer strategischer Fehler« gewesen. Und wenn die AfD den massiven Ausbau der Kernkraft fordert, attackiert sie vor allem den Klimaschutz und die Energiewende. So ist es auch kein Wunder, dass in Europa nur Länder mit konservativen bis ultrarechten Regierungen auf mehr Atomstrom setzen wollen. Aber auch Länder wie Frankreich, die geschäftliche Interessen am Verkauf der entsprechenden Technologie haben.

Letztlich ist es heute wie vor fünf Jahrzehnten, als die Atomprogramme in Deutschland starteten: Hier geht es um rein politisch motivierte Entscheidungen. Bei Markus Söder soll das Atomthema auch ablenken vom eigenen Versagen in der Energiepolitik. Bayern ist dank des Engagements vieler Häuslebauer und Landwirte zwar führend bei der Solarenergie in Deutschland, doch der Ausbau der Windenergie wurde im Freistaat teils verschlafen und teils mit bürokratischen Hürden wie einer übertriebenen Abstandsregel blockiert. Unter den Flächenländern ist Bayern mit großem Abstand Schlusslicht bei der installierten Leistung je Quadratkilometer. Trotz des Bedarfs an kostengünstigem Strom, den die Erneuerbaren fast zum Nulltarif liefern könnten, geht es so weiter: Nach einer Auswertung des Portals »Windbranche.de« lag der Nettozubau in den ersten zehn Monaten des Jahres 2024 in Söders Heimat bei null Windrädern.

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