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Migration in Japan: Abrücken von der Leitkultur
Die AfD orientiert sich an Japans Abschottung. Doch das Land hat sich längst für Einwanderer geöffnet
Björn Höcke rief gegen tosenden Applaus an, als er forderte: »Mehr Japan wagen!« Jenes Land in Ostasien habe nämlich so viele Gemeinsamkeiten mit Deutschland, mache aber eine Sache ganz anders. Dort gebe es ein »exzellentes Gastarbeitersystem« mit »Zuwanderern auf Zeit«. Der AfD-Politiker betonte: »Wenn wir nicht den japanischen Weg gehen als Deutschland und Europa, dann werden wir in Deutschland und Europa eine kulturelle Kernschmelze erleben!«
Diese Worte stammen aus dem April 2021, als die AfD beim Bundesparteitag ihr damaliges Wahlprogramm diskutierte. Höcke plädierte damals gar für ein »Migrationsmoratorium«, das jegliche Zuwanderung nach Deutschland und die EU aussetzen sollte, mit der Ausnahme wohlhabender Investoren. Knapp drei Jahre später sind solche Themen wieder hochaktuell. Über kaum etwas wird so viel diskutiert wie Migration.
Spätestens seit Ende Januar, als sich CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz mit den Stimmen der AfD um eine Mehrheit im Bundestag für eine strengere Migrations- und Flüchtlingspolitik bemühte, erscheint es nicht mehr ausgeschlossen, dass auch Haltungen der AfD in Parlamenten umgesetzt werden. Und wie sehr bei einem der für Deutschlands Rechte wichtigsten Themen – Migration – Japan als Vorbild gesehen wird, hört man nicht nur bei Höcke.
Es zeigt sich eine neue Offenheit. Auf Jobmessen schmücken sich Arbeitgeber jetzt mit Regenbogenflaggen, vor zehn Jahren wäre das schwer vorstellbar gewesen.
Auch Nicole Höchst, AfD-Bundestagsabgeordnete aus Rheinland-Pfalz, schwärmt. »Endlich habe ich mich auf der Straße mal wieder sicher gefühlt«, berichtet sie in ihrem Berliner Büro von einer Reise nach Japan 2024. Die stellvertretende Vorsitzende der Deutsch-Japanischen Parlamentariergruppe ist sich sicher, dass dies an Japans restriktiverer Migrationspolitik liege.
Tatsächlich fallen zwischen Japan und Deutschland einige Unterschiede auf: Während 2020 18,8 Prozent der in Deutschland lebenden Bevölkerung in einem anderen Land geboren waren, lag dieser Anteil in Japan nur bei 2,2 Prozent. 2024 lebten in Deutschland gut 3,1 Millionen Geflüchtete, in Japan nur rund 25 800. Und das Thema, das Höchst und Höcke damit verknüpfen: In Deutschland wurden 2023 pro 100 000 Menschen rund 7000 Straftaten angezeigt, in Japan an die 500.
Wenn es einzig darum geht, in einer Gesellschaft mit möglichst wenig Fremden und Straftaten zu leben, kann Japan also tatsächlich als Leitbild für Deutschland dienen. Zumal sich im ostasiatischen Land über Jahrzehnte das Narrativ verfestigte, man sei eine »homogene Gesellschaft«, in der sich die allermeisten Personen ähnlich seien, dieselben Ideale teilten, Regeln respektieren und befolgen. Diese Erzählung kommt dem nahe, was die CDU um Friedrich Merz vermutlich unter dem Begriff »Leitkultur« versteht.
Inwieweit hohe soziale Homogenität aber mit geringer Kriminalität zusammenhängt, ist umstritten. Laut Studien scheint eher das Niveau sozialer Polarisierung eine wichtige Rolle für das Aufkommen von Straftaten zu spielen.
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In Japan sorgt die Bewunderung unter Deutschlands Rechten aber aus anderen Gründen für Verwunderung. Masaaki Ito, Soziologieprofessor an der Seikei-Universität in Tokio, sagt: »Hier ist man sich heute weitgehend einig, dass sich Japan dringend weiterentwickeln muss. Selbst die konservativ ausgerichtete Regierung hat Japan in vielen Bereichen auf einen Reformkurs geschickt.« Nach wem man sich dabei richte? Ito schmunzelt: »Als wichtiges liberales Vorbild gilt heute Deutschland!«
Tatsächlich hat sich Deutschlands Bruttoinlandsprodukt (BIP) seit 1994 verdoppelt. Jenes von Japan dagegen hat im selben Zeitraum leicht abgenommen. Das BIP pro Kopf stieg in Deutschland von 27 000 US-Dollar 1994 bis 2023 auf 52 700 Dollar. Während Japan 1994 mit einem BIP pro Kopf von fast 40 000 Dollar insofern noch deutlich wohlhabender war als Deutschland, ist es heutzutage mit knapp 34 000 Dollar abgeschlagen.
Einen entscheidenden Grund hierfür benennt Franz Waldenberger, Ökonom und Direktor des Deutschen Instituts für Japanstudien in Tokio: »Die Bevölkerung altert hier nicht nur, sie schrumpft.« Eine abnehmende Bevölkerung wirkt als ökonomische Wachstumsbremse. Mit seinem bisherigen Modell, das sich gegenüber Migration abgeschottet hat, sei Japan an seine Grenzen geraten.
Drei von zehn Personen in Japan sind derzeit 65 Jahre oder älter, jede zehnte ist mindestens 80 Jahre alt. Zum Vergleich: Im ebenfalls alternden Deutschland ist etwas mehr als jede fünfte Person 65 oder älter und sieben Prozent sind mindestens 80. Das heißt: Nicht nur die Arbeitsbevölkerung schrumpft, sondern in einigen Bereichen – wie etwa der Pflege – nimmt der Arbeitskräftebedarf bei bereits bestehendem Mangel noch zu.
In Japan hat diese Problematik allmählich jede und jeder verstanden. Stellenangeboten begegnet man überall, ob in Cafés oder in Signaturzeilen von E-Mails. Wer sein Pensionsalter erreicht hat, wird vom Arbeitgeber ums Weiterarbeiten gebeten. Betriebe gehen nämlich in zunehmender Zahl pleite, weil sie keine Arbeitskräfte oder Nachfolgechefs finden. Doch da Japan seit 2009 um gut fünf Millionen Menschen geschrumpft ist, öffnet sich das Land seit einigen Jahren eben Schritt für Schritt.
Kurz vor der Pandemie beschloss das Parlament ein vom damaligen Premier Shinzo Abe auf den Weg gebrachtes Gesetz, das die Anwerbung von Arbeitskräften deutlich erleichtert hat: In 14 Branchen – darunter der Bau, Altenpflege, Landwirtschaft, Gastronomie, Hotellerie und Jobs in Supermärkten – wurden auch Menschen mit einfachen Japanisch-Kenntnissen für zunächst bis zu fünf Jahren willkommen geheißen. Im Gegensatz zur vorigen Politik war das ein monumentaler Wandel.
Seit 2012 hat sich die Zahl der Gastarbeiter auf rund drei Millionen vervierfacht. Wer Spezialkenntnisse hat, kann seine Familie jetzt nachholen, das Visum uneingeschränkt erneuern. Zuvor waren solche Möglichkeiten auf Personen mit Universitätsabschluss, hohen Einkommen und viel Erfahrung beschränkt, etwa Rechtsanwältinnen und Ärzte. Wer sich nicht in solchen privilegierten Sphären bewegte, wurde lange Zeit prekär beschäftigt. Mittlerweile aber hat Japans Justizministerium Firmen angewiesen, Gastarbeitern die gleichen Löhne zu zahlen wie japanischen Arbeitskräften.
Generell zeigt sich eine neue Offenheit. Auf Jobmessen schmücken sich Arbeitgeber jetzt mit Regenbogenflaggen, nennen sich »LGBT-friendly« – oft auf Englisch formuliert. Beim Multikonzern Mitsubishi Electric etwa hängen solche Banner in Fabriken. Vor zehn Jahren wäre es schwer vorstellbar gewesen, dass ein großer japanischer Arbeitgeber Vielfalt über Gleichförmigkeit stellt, offenes Lesbisch-, Schwul- und Transsein toleriert. So etwas wäre Privatsache gewesen. Jetzt aber will man einladend sein.
Konservative und Rechte in Deutschland – von CDU und CSU bis zur AfD – sehen Japan aber auch in der Annahme oft als Vorbild, das ostasiatische Land suche sich die Regionen aus, aus denen Arbeitskräfte angeworben würden. »Man sucht ja eher im kulturnahen Raum«, meint Nicole Höchst. Deutschland tue dies nicht, da viele Personen aus überwiegend muslimischen Ländern ins Land gekommen seien.
Spricht man Masaaki Ito auf diese These an, kommt Kopfschütteln. »Ein Großteil der ausländischen Arbeitskräfte in Japan kommt heute aus China. Die Vorurteile gegenüber Menschen aus China sind hier beträchtlich.« Verschwörungstheorien gehen herum, nach denen die Chinesen eine Invasion planen. Zu behaupten, China sei kulturell ähnlich, nur weil die geografische Distanz gering ist, sei sowieso ein Irrtum. Überhaupt ist Asiens sprachliche, religiöse und politische Vielfalt weltweit wohl einzigartig.
Und Japans neue Offenheit beschränkt sich auch nicht mehr auf Asiaten. »Das Land hat sich sehr stark verändert, auch in der Flüchtlingspolitik«, sagt etwa Michael Müller. Der SPD-Bundestagsabgeordnete kennt Japan seit Jahren, war als Bürgermeister Berlins – eine Partnerstadt Tokios – regelmäßig in der japanischen Hauptstadt. Derzeit ist er Vorsitzender der Deutsch-Japanischen Parlamentariergruppe. »Es besteht viel Interesse am Weg, den Deutschland geht«, so Müller.
Bis vor kurzem ist Japan etwa notorisch bekannt gewesen für die Ablehnung von Flüchtlingen. Obwohl das Land Vertragspartei der Genfer Flüchtlingskonvention ist, die Staaten dazu verpflichtet, verfolgten Personen Schutz zu gewähren, hat Japan bisher oft nur eine ein- oder zweistellige Zahl an Asylsuchenden pro Jahr aufgenommen.
Aber Japans Handhabe hat sich mit dem neuerlichen Angriff Russlands auf die Ukraine seit Februar 2022 geändert. Hunderte Schutzsuchende aus dem osteuropäischen Land wurden aufgenommen. Das ist immer noch wenig im Vergleich zu Ländern wie der Türkei oder Deutschland, die Millionen aufnehmen. Aber die Ukrainer in Japan werden jetzt erstaunlich gut integriert, die Jüngeren unter ihnen erhielten auf unbürokratische Weise Studienplätze. Man hofft offenbar, dass einige bleiben und im Land arbeiten.
»Diversität ist heute eines der großen Ideale«, sagt Masaaki Ito. Als Tokio im Sommer 2021 die Olympischen Spiele austrug, prangte überall das Banner »Unity in Diversity«: Einheit in Vielfalt. »Tayousei« – Japanisch für Diversität – ist nun das Zauberwort in Politik und Wirtschaft, mit dem man modern klingt. Die alte Idee der homogenen Gesellschaft ist abgelöst. Ein Wort wie Leitkultur – oder gar Remigration – würde im heutigen Japan verstaubt klingen.
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