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»Blue Moon«: Der Mann aus Glas
Berlinale-Wettbewerb: »Blue Moon« von Richard Linklater
Wieso zeigt uns Richard Linklater mit »Blue Moon« einen Film, der an einem einzigen Abend, dem 31. März 1943 im New Yorker Restaurant Sardi’s fast ausschließlich an der Bar spielt? Weil dort der Songtexter Lorenz Hart sitzt, der seine Verzweiflung in einen nicht enden wollenden Monolog presst, zu dessen Fortsetzung er einen Whisky nach dem anderen kippt. Ein einziger Abend und ein Schauspieler (der großartige Ethan Hawke), dessen Redefluss in promillehaltige Unendlichkeit getaucht scheint. Er redet pausenlos, wie um sich zu vergewissern, dass es ihn gibt. Doch letztlich kann er sich nicht davon überzeugen.
Kurze Zeit später ist Hart tot, gestorben mit 48 Jahren an Frust und Alkoholismus. Oder wie der immer pointensichere Songwriter, der nichts so sehr hasste wie sentimentales Paktieren mit dem Publikum, das eigene Ende vorwegnehmend sagte: an »Raucherherz«. Das habe er irgendwo gelesen, aber sich offenbar verlesen, denn da stand »gebrauchtes Herz«, ein ärgerlich triviales Bild aus der Welt der Revuen.
Also warum ein einziger Abend und gleichzeitig die schiere Endlosigkeit, noch dazu nach der Premiere des Musicals »Oklahoma!«, für den Hart nicht den Text schreiben durfte, obwohl er Hollywoods profiliertester Songschreiber ist, oder besser: war? Weil es das Lebensthema des inzwischen 64-jährigen texanischen Regisseurs Richard Linklater ist, aus dem er seine Filme macht: die Zeit, die uns altern und schließlich verschwinden lässt. So in seiner berühmten Trilogie »Before Sunrise« (1995), »Bevor Sunset« (2004) und »Before Midnight« (2013) – immer in der gleichen Besetzung mit Ethan Hawke und Julie Delpy. Ein Liebespaar, das schließlich ein alterndes Ehepaar geworden ist. Die Erfüllung unserer Wünsche ist manchmal nicht so wünschenswert.
2014 lief auf der Berlinale sein Film »Boyhood«, die Geschichte einer Familie, in der die Kinder wachsen und die Eltern schrumpfen, in Echtzeit. Die Drehzeit zog sich von 2002 bis 2013 hin.
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Linklater, der sanfte Extremist, der nie Regie studiert hat und für den jeder neue Film ein Austasten von Grenzen ist, hat 2019 ein weiteres Langzeitprojekt begonnen, das 20 Jahre dauern soll: die Verfilmung des Musicals »Merrily We Roll Along« von Stephen Sondheim. 14 Jahre Drehzeit hat er noch vor sich – 2039 wird er damit vermutlich auf der Berlinale erscheinen, dann ist Linklater 78! Und da braucht er zwischendurch einige Fingerübungen, so etwa ein Kammerspiel mit Ethan Hawke? So einfach ist es nicht. Denn dieser Film – wie sollte es anders sein bei Linklater – ist eine Hochpräzisionsmaschine, die atmet, trinkt und auf so subtile Weise böse Bemerkungen macht, dass das Publikum sofort gespalten ist.
Denn es ist der Film über einen eher alten weißen Mann, der noch dazu etwas missgestaltet, homosexuell, neurotisch und alkoholsüchtig ist. Amerika befindet sich 1943 im Krieg, da sollen die Männer wie Kriegshelden aussehen und nicht an der Bar rumsitzen und defätistische Reden halten. Was ist eigentlich der beste und der schlechteste Satz in »Casablanca«? Der Barmann Eddie (Bobby Cannavale), der Hart allzu gut kennt, ist hier zumeist stummer Anspielpartner für den Redeschwall des Songtexters, dem aber niemand mehr richtig zuhört. Denn er ist nicht mehr im Spiel. In über 20 Jahren hatte Hart mit dem Komponisten Richard Rodgers, den er selbst als noch sehr jungen Mann entdeckt hatte, 28 Musicals und 500 Lieder geschrieben. Aber nun nicht mehr. Das neue Musical »Oklahoma!« hat Rodgers mit neuem Texter erarbeitet – und Erfolg damit. So überholt einen die Generation der eigenen Kinder, über deren Schwächen man einst warmherzig hinwegsah. Aber Rodgers serviert ihn kalt ab. Er sei zu unzuverlässig geworden, mache immer die falschen inkorrekten Witze, die die Karriere gefährden. Sich über das Ausrufezeichen in »Oklahoma!« lustig zu machen, ist so etwas, das gänzlich fehl am Platze sei, wo die Farmerfamilie, um die es hier geht, doch alle Sympathie verdiene! Hart hört wieder bloß »Raucherherz« und weiß, es trennen sie Welten, der eigene unaufhaltsame Abstieg ist im Gange. Und will man denn so werden wie jene, die aufdringlich an Moral und Ernst appellieren in Zeiten des Krieges und ihrer Helden?
Linklater mag die Patrioten aller Couleur keinesfalls. Darum redet Hart auch so forciert unernst, geradezu zotig. Abwechselnd echot Eddie, der Barmann: »Ich auch!« – »Me too!« Eddie hinter der Bar, der die gleiche Solonummer von Hart schon unzählige Male miterlebt hat, gießt nach und macht ein resigniertes Gesicht. Natürlich weiß er längst, was der beste und was der schlechteste Satz in »Casablanca« ist. Der vom Beginn einer wunderbaren Freundschaft scheint jedenfalls beides zugleich.
Ethan Hawke trägt 100 Minuten lang den Absturz des gedemütigten Lorenz Hart, durch den nach der Premiere von »Oklahoma!« alle hindurchsehen, als sei er aus Glas. Er trägt ihn, indem er den Sturz kunstvoll dramaturgisiert. So wird er zur hässlichen wie zur lächerlichen Farce. Hart monologisiert laut über ein Marco-Polo-Musical, das er schreiben will, über Sex, den er nicht hat, die Schönheit, die er liebt, egal wo man sie findet, und die allgegenwärtige Heuchelei derer, die sich als Apostel der Nation ausgeben, obwohl sie bloß gefährliche Zocker sind. Einer wie er stört, und zählt nicht mehr. Was er sagt, scheint nach dem Triumph des albernen »Oklahoma!« wie weggeblasen. Ein paar Worte mit seinem langjährigen Kompagnon Rodgers an der Treppe lassen ihn die durchdringende Peinlichkeit seiner Existenz spüren. Er ist immer noch da, obwohl man sich doch offiziell auf seine Nichtexistenz geeinigt hat.
Linklater inszeniert dieses Kammerspiel einer Existenzauflösung so intensiv, dass man das Kino mit einer leichten Übelkeit verlässt, als hätte man mit Ethan Hawke die ganze Zeit an der Bar gesessen und Whisky getrunken. Irgendwie erinnert mich »Blue Moon« an »Alles über Eva« von Joseph L. Mankiewicz oder auch an »Sunset Boulevard« von Billy Wilder. Karrieren im Showgeschäft und der Wahn derer, die darin gefangen sind. Linklaters Film polarisierte übrigens schon in der Pressevorführung, fand sofort seine Feinde, aber auch begeisterte Anhänger. Besser geht es kaum.
»Blue Moon«: USA/ Irland 2025. Regie: Richard Linklater. Buch: Robert Kaplow. Mit: Ethan Hawke, Margaret Qualley, Bobby Cannavale, Andrew Scott. 100 Min.
20.2., 13 Uhr Urania, 23.2., 10 Uhr Berlinale Palast
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