Gespenster des Alptraums Deutschland

Linke Lebenszeichen inmitten des politischen Trümmerhaufens der Bundesrepublik

  • Sebastiano Canetta
  • Lesedauer: 5 Min.
Protest vor dem Bundestag gegen den Schulterschluss von CDU und AfD: Auf dem Banner sieht man das Bild von Alice Weidel (l.), Fraktionsvorsitzende der AfD, und Friedrich Merz, CDU-Bundesvorsitzender.
Protest vor dem Bundestag gegen den Schulterschluss von CDU und AfD: Auf dem Banner sieht man das Bild von Alice Weidel (l.), Fraktionsvorsitzende der AfD, und Friedrich Merz, CDU-Bundesvorsitzender.

Wird das Land entstehen, das sich Alice im Wunderland und ihr Freund, der Marsmensch Elon Musk vorgestellt haben? Oder wird an den Wahlurnen am Sonntagabend ein riesiger »Black Rock« entstehen, platziert im Herzen Europas, um die Werte zu bewahren, die der Vorsitzende der CDU, Friedrich Merz, perfekt verkörpert? Das heißt, wenn es nicht die schwarz-grüne (olivfarbene) Marmelade wird, die für alle politischen Jahreszeiten gut ist, oder alternativ die hyper-erprobte sozial-christdemokratische Große Koalition.

Wenige Stunden vor der Öffnung der Wahllokale für die Neuwahl des Bundestages tauchen die – nicht immer echten – Gespenster des Alptraums Deutschland auf. Die Vorstellung von der deutschen Sozialdemokratie, die fest im Wertekanon des Grundgesetzes verankert sei, jenseits der reinen Wahlergebnisse, ist längst nur noch ein Traumgebilde. Es scheint tatsächlich so zu sein (wie man uns in der Grundschule beibringt), dass der Boden unter Berlin nur eine riesige Sandwüste sei.

Zerplatzte Illusion

In der Tat gibt es den Sonderfall »Germania Felix« nicht mehr, und die Illusion, in der letzten Oase der europäischen Demokratie zu leben, prallt frontal auf die erbarmungslose Realität der Umfragen, die in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie so schwarz waren.

Von einem Italiener aus gesehen hat der Himmel über Berlin bereits die gleiche Farbe wie über Rom: die Hauptstadt des neuen »Melonistan«, das im Oktober 2022 die alte, auf dem Antifaschismus beruhende italienische Republik abgelöst hat. Und für den außenstehenden Beobachter ist die Pseudo-Nachricht, dass sich der Trumpismus in Deutschland kulturell verankert hat, noch vor dem Politischen, auch keine wirkliche Überraschung.

Merz & Co.: Erben Silvio Berlusconis

Sind Donald & Elon – aber auch Merz und Christian Lindner – nicht die würdigen Erben von Silvio Berlusconi, dem ultraliberalen Tycoon, »dem Mann, der ein ganzes Land verarscht hat«, wie es der »Economist« vor 15 Jahren so treffend formulierte?

Wenn Bundeskanzler Olaf Scholz von der »Verteidigung der westlichen Werte« spricht, sind wir dann nicht schon über den Zaun der Sozialdemokratie und vielleicht der Verfassung hinaus? Wenn das moralische Gebot der bedingungslosen Verteidigung Israels mehr wert ist als jedes nationale und internationale Recht (wie die peinliche Reaktion von Regierung und Opposition auf den internationalen Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu zeigt), können wir uns dann wirklich vorstellen, dass Deutschland eine Chance hat, sich vor dem Ende der Regeln zu retten, die es unterschrieben und bis gestern geteilt hat?

Schulterschluss mit der AfD

Viel Glück! Das wäre der einzige aufrichtige Wunsch für die Deutschen, wenn nicht inmitten des politischen Trümmerhaufens der Bundesrepublik wichtige Lebenszeichen zu erkennen wären.

Zwar haben sich Christdemokraten und Liberale im Namen der Realpolitik mit Händen und Füßen der Alternative für Deutschland ergeben, doch die Linke in Deutschland hat nicht tatenlos zugesehen. Vor allem hat sich die Linkspartei nicht in den Schmutz der Zuwanderungsdebatte ziehen lassen und schon vorher verstanden, wie wichtig die Stimme der jungen Menschen ist, die sich ihre Zukunft nicht mehr von spätkapitalistischen Parteien vorschreiben lassen wollen, aber auch dem zaghaften Reformismus der SPD widerstreben.

Aufschwung der Linkspartei

Die Linke, die noch vor wenigen Monaten eine zerrüttete Partei am Rande der Auflösung war, hat in den letzten Wochen in der Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen sechs Prozent mehr junge Menschen für sich gewinnen können als bei der letzten Bundestagswahl. Die Parteispitze bestätigt den außergewöhnlichen Mitgliederboom. Das ist mehr wert als die demoskopischen Erhebungen, nicht zuletzt, weil dieser Trend tatsächlich mit Händen zu greifen ist.

»Leute, die vorher nicht im Umfeld der Linkspartei zu Hause waren, nehmen unser Flugblatt mit. Nicht wenige weisen darauf hin, dass sie 2021 die Grünen gewählt hätten, aber nach deren Pro-Nato- und Pro-Kriegs-Wende Abstand genommen hätten«, lautet die symptomatische Aussage, die ich persönlich an den Wahlkampfständen der Linken in Friedrichshain gesammelt habe. Mit anderen Worten: Die Linke erweist sich trotz aller Schwierigkeiten als fähig, den politischen Rahmen zu halten, obwohl dieser sich in rasantem Tempo verändert hat.

Halbtote italienische Linke

Unter diesem Gesichtspunkt lohnt sich ein Vergleich mit Italien, wo die Linke in Bezug auf den Wählerzuspruch mehr oder weniger gleich viel wiegt wie die deutsche Linkspartei und dennoch ein halbtoter Körper bleibt, der wieder einmal nicht in der Lage ist, seine Karten auf dem Tisch der Politik auszuspielen, nicht einmal in den Medien.

Beim letzten Gipfeltreffen zwischen den drei Parteien der Mitte-Links-Alternative zur Regierung Meloni – AVS (Bündnis zwischen der Linken und den Umweltschützern), 5-Sterne-Bewegung und Demokratische Partei – kam nach stundenlangen Diskussionen eine gemeinsame politische Linie heraus, die sich in dem Slogan zusammenfassen lässt: »Vorwärts, aber mit Bedacht«. Das ist in der Tat ein perfektes Programm – aber, um die Rechte gewinnen zu lassen.

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