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Linke in Russland: Antifa heißt Angriff

Der Krieg gegen die Ukraine polarisiert noch immer die Linke. Auch in Russland spalten sich Antifaschisten wegen des Krieges

  • Anastasia Spartak
  • Lesedauer: 8 Min.
Die Botschaft »Kein Krieg« wird von den russischen Behörden verfolgt – aber auch zwischen Antifaschisten polarisiert sie.
Die Botschaft »Kein Krieg« wird von den russischen Behörden verfolgt – aber auch zwischen Antifaschisten polarisiert sie.

Im August 2022 tauchte an einer viel befahrenen Bahnstrecke in Moskau ein ungewöhnliches Graffitto auf. Zu sehen war der Schriftzug »Antifa« auf Russisch und daneben ein Z, das Symbol der Kriegsbefürworter in Russland. Später korrigierten Unbekannte das Graffito: Sie strichen das Z durch und fügten hinzu: »Der Faschismus wird nicht bestehen! Tod dem Imperialismus!«

Diese scheinbar unbedeutende Episode spiegelt die Spaltung der russischen Antifaschisten angesichts des Kriegs wider – und die ideologischen Widersprüche in der linken Bewegung weltweit. Die Gründe für diese Spaltung werden deutlicher, wenn man sie durch die besondere historische Verbindung nach Deutschland betrachtet: Die russischen Antifaschisten berufen sich einerseits auf die kollektive Erinnerung an die Millionen von Opfern des Kampfes der Sowjetunion gegen Nazideutschland. Andererseits stützen sie sich auf die subkulturelle Bewegung der Antifa, die aus dem heutigen Deutschland ins postsowjetische Russland kam.

»Russen gegen Faschismus«

Der Antifaschismus als politische Praxis wurde von russischen Anarchisten in das linke Milieu eingeführt, denen es im wilden Kapitalismus der 90er Jahre gelang, horizontale Netzwerke aufzubauen, die sich über mehrere Großstädte erstreckten. Da die anarchistische Tradition in Russland nach der Revolution von 1917 unterbrochen wurde, wurden neue Organisationen nach westlichem Vorbild gegründet. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion übernahmen linke Aktivisten Praktiken aus Deutschland – möglich machte dies vor allem die Zeitschrift »Tschornaja swesda« (Schwarzer Stern). So entstanden kleine Magazine, sogenannte Zines, das Anarchistische Schwarze Kreuz, Umweltcamps, die Medienplattform Indymedia, der Schwarze Block und schließlich die Antifa.

Russlands antifaschistische Basis entstand im subkulturellen Umfeld von Punks und Skinheads als Reaktion auf rechtsextreme Gewalt in den frühen 2000er Jahren. Die russische Antifa sieht sich in der Tradition der Antifaschistischen Aktion des KPD-Führers Ernst Thälmann, weshalb sie die Symbole der deutschen Kommunisten – schwarze und rote Fahnen im Kreis –, Parolen und sogar die Liebe zum Fußballverein St. Pauli übernommen hat.

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Für die russische Antifa fügten sich westlicher Antirassismus und Internationalismus harmonisch mit dem Gedenken an den Großen Vaterländischen Krieg zusammen. Der Antifaschismus wurde zu einer Sammelbewegung, in der sich Menschen mit unterschiedlichen politischen Ansichten und Motiven – Skinheads und Punks, Anarchisten und Patrioten, Menschenrechtsaktivisten und Fußball-Hooligans – zusammenschlossen, um sich den Neonazis entgegenzustellen. »Ich bin ein russischer Kerl. Ich bin ein Patriot meines Landes. Dafür schäme ich mich nicht. Deshalb glaube ich, dass es in diesem Land keinen Faschismus geben kann!«, erklärten die Organisatoren einer Antifa-Kundgebung mit dem Titel »Russen gegen Faschismus« in Moskau zum Tag der Einheit des Volkes am 4. November 2009. Die Rechtsextremen wählten diesen Feiertag für ihre Hauptkundgebung, den Russischen Marsch, der ein Jahr zuvor an den Kremlmauern endete.

Im Jahr 2001 wurde die Internet-Domain Antifa.ru registriert, zwei Jahre später ging die Homepage online. In Moskau und St. Petersburg bildeten sich im subkulturellen Milieu die ersten Selbstverteidigungsgruppen, die sich als Antifa bezeichneten. Am 13. November 2005 erstachen Neonazis den Antifaschisten Timur Katscharawa in St. Petersburg. Neonazis machten gezielt Jagd auf Antifaschisten und töteten sie, während Antifaschisten militante Gruppen bildeten und Neonazi-Veranstaltungen wie »russische Märsche«, Kundgebungen und Konzerte angriffen.

Die Ermordung des Rechtsanwalts Stanislaw Markelow und der Journalistin Anastasia Baburowa am 19. Januar 2009 im Zentrum Moskaus sowie die Ermordung des Moskauer Antifaschisten Iwan Chutorskij am 16. November 2009 führten zu einem offenen Konflikt mit den Behörden. Es wurde deutlich, dass Neonazi-Gruppen in Russland unter der Schirmherrschaft der Präsidialverwaltung operierten. Am 28. Juli 2010 griff die Antifa das Verwaltungsgebäude des Moskauer Vororts Chimki an, als sie für den Schutz des örtlichen Waldes protestierte, durch den eine Autobahn verlaufen sollte. Es war die letzte größere Aktion russischer Antifaschisten. Danach griff der Staat in großem Stil durch und zerschlug die Bewegung.

2014 verschwand die Antifa aus dem öffentlichen Leben Russlands. Die Gründe dafür waren Konflikte mit den Behörden und interne Zersplitterung. Die Polizei steckte alle hinter Gitter und machten keinen Unterschied zwischen Rechtsextremen oder Antifaschisten. Gegen Antifaschisten wurden absurde Anklagen konstruiert und Geständnisse durch Folter erpresst. Die bekanntesten Fälle waren Antifa-RASH 2011 (Red and Anarchist Skinheads) und die vermeintliche Terrororganisation »Delo Seti 2018«. Auch die subkulturelle Rekrutierungsplattform verschwand, Skinheads und Punks kamen einfach aus der Mode. Heute gibt es nur noch kleine, vereinzelte Gruppen in verschiedenen Städten, die nach 2022 eine neue Spaltung erlebten.

Folter gegen Internationalisten

Die Kriegsgegner unter den Antifaschisten werden von einer Gruppe vertreten, die man bedingt als »Internationalisten« bezeichnen kann. Sie orientieren sich an der linken Tradition der internationalen Solidarität, lehnen die russische imperialistische Politik ab und können dem Kreml seine Zusammenarbeit mit der extremen Rechten in den Nullerjahren, die Ermordung von Genossen und die Repression nicht verzeihen.

Im russischen medialen Raum werden die »Internationalisten« durch das Projekt Antifa.ru vertreten, das im November 2021 sein 20-jähriges Bestehen feierte. Als Russland in die Ukraine einmarschierte, veröffentlichte der Kanal eine Antikriegserklärung, in der er betonte, dass »die Verwendung antifaschistischer Rhetorik zur Rechtfertigung einer nationalistischen imperialen Aggression ein Missbrauch der Opfer des Großen Vaterländischen Krieges ist«.

Die »internationalistische« Position wurde zum Mainstream der Antifa in Russland. Als Reaktion darauf leiteten die russischen Behörden enorme Repressionen ein und in mehreren Städten fanden gleichzeitig Polizeieinsätze statt. So wurde beispielsweise am 10. August 2022 bekannt, dass die Antifaschisten Ilja Winogradow und Daniil Iwanow in Krasnojarsk festgenommen wurden, weil sie das Gebäude des Rekrutierungsbüros des Militärs mit Antikriegsparolen bemalt haben sollen. Im Dezember 2022 führte die Polizei eine Razzia in einer Bar in Krasnojarsk durch, wo sie gezielt nach »Antifaschisten« suchte.

Das Ergebnis der Repression gegen Antifaschisten war der »Fall Tjumen«. Ende August und Anfang September 2022 wurden sechs Männer in Jekaterinburg, Surgut und Tjumen festgenommen. Ihnen wurde vorgeworfen, eine »terroristische Vereinigung« gegründet und Bombenanschläge auf Militär- und Polizeistationen sowie Sabotageakte auf die Eisenbahnlinien, die russische Militärgüter in die Ukraine transportierten, geplant zu haben. Nach ihrer Verhaftung bekannten sich alle sechs schuldig, erklärten aber bald darauf gegenüber ihren Anwälten, dass sie unter Folter zu ihrer Aussage gezwungen worden waren.

»Rote Patrioten« im Krieg

Unter den Antifaschisten, die Russlands Krieg gegen die Ukraine unterstützen, gibt es eine Gruppe, die als »rote Patrioten« bezeichnet werden kann. Sie stützen ihre Identität auf den Kampf der UdSSR gegen den Faschismus, dessen Wiederaufleben sie in der Ukraine unter der Führung der Nato sehen.

Am 27. August 2014 starb Anton Fatulajew, ein in Moskau lebender Antifaschist mit dem Spitznamen »Dolbila« (Rufzeichen »Dvestidy«), in der Region Luhansk. Er kämpfte als Freiwilliger auf der Seite der sogenannten Volksrepubliken des Donbass. Ein Jahr zuvor war er aus dem Gefängnis entlassen worden, nachdem er eine Haftstrafe für eine Messerstecherei mit rechtsextremen Hooligans in der U-Bahn abgesessen hatte. Unterstützt wurde er dabei vom Anarchistischen Schwarzen Kreuz. Auf seiner Social-Media-Seite kritisierte Anton antifaschistische Gruppen dafür, dass sie die »russische imperialistische Aggression« verurteilten, und machte auch beleidigende Bemerkungen über ukrainische antifaschistische Anhänger des Kiewer Fußballklubs Arsenal, die für die Ukraine kämpfen wollten.

Genau acht Jahre später, inmitten der Feindseligkeiten in der Ukraine, erschien ein kleiner Telegrammkanal namens 161 Crew. Die erste Veröffentlichung in diesem Kanal war ein Foto von Anton. So tauchte eine Gruppe russischer Antifaschisten in den Medien auf, die den Krieg gegen die Ukraine nicht nur unterstützten, sondern auch an der Front kämpfen wollten. Im Kanal werden Fotos von Männern in Uniformen mit verputzten Gesichtern und rot-schwarzen antifaschistischen Wappenschildern geteilt.

»Unter uns gibt es verschiedene Leute, von normalen Antifaschisten bis hin zu Skins. Für uns spielt es keine zwingende Rolle, ob eine Person rot ist oder nicht. Uns interessiert, was er tut. Aber eines können wir mit Sicherheit sagen: Wir sind alle Antifaschisten und wollen, dass das Blutvergießen so schnell wie möglich aufhört. Als Patrioten Russlands sehen wir diese Möglichkeit nur im Endsieg Russlands«, sagte die 161 Crew. Der Kanal ist inzwischen gelöscht.

Risse im Spiegel

Der Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar 2022 stellte Neonazis und Antifaschisten vor ein spiegelbildliches Dilemma. Einige überlegten, ob die »Verteidiger der weißen Ethnie« an der Seite der Ukraine gegen den »Neobolschewisten Putin« kämpfen oder Russland in seinem Kampf gegen das »linke Gayropa« unterstützen sollten. Andere fragten, auf wessen Seite die wahren Internationalisten und Verfechter des sozialen Fortschritts stünden, wenn der Kreml einen Krieg unter dem Motto der »Entnazifizierung« führt, die Ukraine von den USA unterstützt wird und es auf beiden Seiten der Front offen rechtsextreme Einheiten gibt.

Drei Jahre später ist klar, dass der Krieg in der Ukraine den Rechtsextremen zugutegekommen ist, die nicht nur in Europa, sondern auf der ganzen Welt an die Macht gelangen. Sie nutzen die globalen Spannungen als Vorwand, um Ängste in der Wählerschaft zu schüren, »die Nation zu stärken« und gegen »innere Feinde« vorzugehen. Die Linke hat in diesen Spannungen keine klare Position zum Krieg entwickelt. Dies spiegelt die russische antifaschistische Bewegung wider: Ihre Spaltung lässt diese Widersprüche deutlich werden und vielleicht Wege finden, sie zu überwinden.

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