Von Träumen und Ängsten

Am Sonnabend wurden auf der Berlinale die Preise verliehen

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.
Und wieder sind alle Bären vergeben.
Und wieder sind alle Bären vergeben.

Diese Berlinale, die erste unter der neuen amerikanischen Direktorin des Festivals, Tricia Tuttle, hatte eine Mission: die Rückbesinnung des Films auf seine ureigensten Mittel. Tuttle agierte wohltuend gelassen in dieser hysterisch aufgeladenen Zeit, machte deutlich, dass Hassreden auf dem Festival nicht geduldet werden, aber ebenso, dass die Meinungsfreiheit auch dann ein schützenswertes Gut ist, wenn einen die Meinungen anderer schmerzen. Kunst ist dabei jener Ort, an dem es weder ums eigene Rechthaben geht noch darum, den Film in eine politische Praxis umzusetzen. Kunst vereinfacht nicht, sie zeigt die Komplexität eines Themas, oft auch seine fragile und subjektive Gestalt – das ist kein Luxus, sondern eine Schule jener Toleranz, die sich aus Humanität speist.

Darum ist, jenseits der prestigeträchtigen Bären, ein eher kleiner Preis doch groß im eigenen Anspruch an die Filmkunst in all ihren Facetten. Der Heiner-Carow-Preis der Defa-Stiftung ging an »Palliativstation«, einen Dokumentarfilm von Philipp Döring, der sich die Zeit nimmt für jene, die in diese Einrichtung gegangen sind, um zu sterben und jene, die sie dabei begleiten. Ist das eine grausame Szenerie? Ja und nein. Die Traurigkeit über das nahende – und dann eintretende – Ende gehört zum Menschsein. Wirkliche Freude und Unbeschwertheit im Leben aber erlangt man nicht dadurch, dass man die Augen vor dem Ende verschließt – im Gegenteil, die Kostbarkeit jedes gelebten Augenblicks ist für den Einzelnen an die Akzeptanz der eigenen Endlichkeit gebunden.

Als Thema standen solcherart existenzielle Fragen in allen 19 Wettbewerbsfilmen im Raum. In den Preisen, die die Jury unter ihrem Präsidenten, dem amerikanischen Regisseur Todd Haynes (als einzige Deutsche gehörte auch die Schauspielerin und Regisseurin Maria Schrader der Jury an) vergab, spiegelt sich das natürlich sehr subjektiv wider.

Es gab noch kein Jahr, in dem ich nicht den Kopf schüttelte, warum ein Film oder ein Schauspieler keinen Preis bekommen hatte, den ich unbedingt vergeben hätte. So auch dieses Jahr: kein Preis an Ethan Hawke als abservierter Musical-Texter Lorenz Hart in Richard Linklaters »Blue Moon«. Dabei ist dieses Kammerspiel zwischen Ohnmacht und Hybris ein schauspielerischer Parcours, den er auf atemberaubende Weise meistert. Da rächt es sich, dass seit einigen Jahren der Silberne Bär für die Beste Schauspielerische Leistung in einer Hauptrolle nicht mehr für Männer und Frauen getrennt vergeben wird, de facto also ein Preis wegfällt. Hier nun bekam ihn Rose Byrne durchaus zu Recht in »If had legs I’d kick you« von Mary Bronstein als Frau im inneren Ausnahmezustand.

Der Silberne Bär für die Beste Schauspielerische Leistung in einer Nebenrolle ging dann aber an »Blue Moon«. Andrew Scott bekam ihn für seine Rolle als Komponist Richard Rodgers, der sich von seinem Texter Hart getrennt hat. Eine Jury-Entscheidung, die mir nicht recht einleuchtet und wohl eine Konzession an den als Film- und Serienschauspieler vielbeschäftigten Scott darstellt. Wenn schon Bester Nebendarsteller in »Blue Moon«, dann doch bitte an Bobby Cannavale als grandios leidender Barmann.

Sind Preise Glückssache? Nicht ganz, aber Glück braucht man schon. Da hat es viel mit dem prägenden Grundgestus der jeweiligen Berlinale zu tun. Es gab schon sehr politische Berlinalen und auch Preise, die man als weltanschauliche Statements werten konnte. Diese Berlinale war anders, sehr bewusst in die Zwischenbereiche menschlicher Existenz gehend: Expeditionen ins Unbewusste. Am Anfang hatte ich den bösen Verdacht, dass hier mittels Esoterik billige Effekte bedient werden sollten (»Licht« von Tom Tykwer als missglückter Eröffnungsfilm schien das zu bestätigen). Aber im Nachhinein muss ich mich revidieren: Es war viel von Träumen und Sehnsüchten, auch von mysteriösen Ängsten und Ahnungen die Rede. Auf einem sehr hohen Niveau und auf jene intelligente Weise, die die Kunst als poetische Macht im Lande allein rechtfertigt.

So gab es auch gleich zwei Filme im Wettbewerb, die »Dreams« betitelt waren. Ein mexikanischer und ein norwegischer Beitrag. Letzterer in der Regie von Dag Johan Haugerud bekam den Goldenen Bären als Bester Film. Drei Frauen in drei Generationen verstricken sich in ein Beziehungsgeflecht – jede agiert vor dem eigenen Erfahrungshintergrund. Im Mittelpunkt steht die Enkelin Johanne, die 16 ist und sich in ihre Lehrerin verliebt. Wie wunderbar und furchtbar zugleich dieses Gefühl für sie ist, beschreibt sie in ihrem Tagebuch, das auch die Mutter und die Großmutter lesen. Eine hochinteressante Versuchsanordnung.

Den Silbernen Bär für die Beste Regie erhielt Huo Meng für »Living the Land«, einen Film, dem eine Art dokumentarischer Authentizität gelingt, jedoch als rein artifizielle Schöpfung. Eine atmosphärisch dichte Milieustudie über das dörfliche Leben in China Anfang der 90er Jahre. Traditionen verschwinden, aber was an ihre Stelle tritt, außer dem bloßen Verfall, scheint unklar. Das Neue, so lernen wir, muss nicht nur gemacht werden, zuerst bedürfte es eines Traums, einer Vision von Zukunft. Die jedoch fehlt hier. Eine subtil zu Tage tretende Diagnose, die wohl nicht nur China betrifft.

Beim Berlinale-Abschluss ging es politisch zu, ohne explizit zu werden. Radu Jude, der einen Silbernen Bären für das Drehbuch zu »Kontinental ’25« bekam, sagte in seiner Dankesrede, er hoffe, dass der Internationale Gerichtshof in Den Haag »seine Arbeit machen wird gegen all diese mordenden Bastarde«. Da war er wieder, der Krieg in Gaza, wie schon zu Abschluss der Berlinale im letzten Jahr bei den Auseinandersetzungen über den israelisch-palästinensischen Film »No other land«.

Nachdem dieses Jahr »The Devil Smokes (and Saves the Burnt Matches in the Same Box)« von Ernesto Martínez Bucio, ein Film über fünf Geschwister in Mexiko, die von ihren Eltern verlassen werden, die neue Sektion Perspectives gewonnen hatte, sagte Jury-Mitglied Meryam Joobeur: »In jüngster Zeit und in der Gegenwart haben wir miterlebt, wie Männer und Frauen durch die Linse eines Scharfschützengewehrs blickten, auf den Kopf und das Herz eines Kindes zielten und abdrückten. Wir haben die Vernichtung Tausender Kinder gesehen, die von politischen und journalistischen Kräften als reine Kollateralschäden abgetan wurden.«

Mit Blick auf die Bundestagswahl am Tag nach der Preisverleihung sagte Jude aber auch, er hoffe, dass die nächste Berlinale nicht mit dem »Triumph des Willens« von Leni Riefenstahl eröffnet werde.

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