- Politik
- Bundestagswahl
Linken steht echte Kulturrevolution bevor
Die gesellschaftliche Linke übernimmt die Fraktion. Das eröffnet Probleme, aber ist vor allem eine Chance
Zwar ziehen mit Bodo Ramelow, Gregor Gysi, Sören Pellmann und der Parteivorsitzenden Ines Schwerdtner, die ihre Direktmandate mit großem Abstand eroberten, auch bekannte Gesichter in den neuen Bundestag ein. Doch im Großen und Ganzen steht der Linken eine echte Kulturrevolution bevor.
Spektakulär ist die erstmalige Eroberung eines »West«-Wahlkreises, nämlich Berlin-Neukölln durch Ferat Koçak. Um den kurdischstämmigen Aktivisten hatte sich in den vergangenen Monaten eine regelrechte Basisbewegung formiert. Trotz einer teilweise heftigen Kampagne Berliner Zeitungshäuser, die Koçak wegen seiner Israel-Kritik Antisemitismus vorwarfen, gelang es der Kampagne, den linken Erststimmenanteil in Neukölln auf 30 Prozent fast zu verdreifachen – und das gegen relativ populäre Konkurrenten von SPD und Grünen.
Auch über die Landeslisten ziehen Abgeordnete ein, die die Linke außerparlamentarischer machen wollen. Aus Hessen kommt unter anderem Violetta Bock, die seit Jahren Nachbarschaftsarbeit im benachteiligten Norden Kassels macht und schon bei den OB-Wahlen 2023 gegen den hessischen Trend deutlich zulegte. Ein ähnliches Profil besitzt auch der Stuttgarter Luigi Pantisano, der wegen antirassistischer Posts in sozialen Medien regelmäßig von der extremen Rechten bedroht wird. Pantisano hatte 2020 bundesweit Aufmerksamkeit erregt, als er im südbadischen Konstanz mit 45 Prozent fast das CDU-geführte Rathaus erobert hätte.
Über die nordrhein-westfälische Landesliste zieht die Krankenpflegerin Lea Reisner, die sich bei der Seenotrettung engagiert und sich in einem Interview unlängst als Anarchistin bezeichnete, ins Parlament ein. Ebenfalls Krankenpflegerin ist Stella Merendino, die in einer Berliner Notaufnahme arbeitet und in den Streikbewegungen der vergangenen Jahre aktiv war. Fast hätte Merendino das fünfte Berliner Direktmandat erobert: Am Ende lag sie im Bezirk Berlin-Mitte nur einen Prozentpunkt hinter der grünen Favoritin.
Eine spürbare Veränderung ist auch, dass das alte Ost-West-Gefälle nivelliert wird. In den westdeutschen Flächenländern Hessen, Niedersachsen und NRW war die Linke mit jeweils über 8 Prozent fast genauso stark wie in Sachsen-Anhalt mit 10,8 oder Sachsen mit 11,3 Prozent. Dementsprechend verschiebt sich die Zusammensetzung der Bundestagsfraktion: Kamen 2021 noch etwa 40 Prozent der Abgeordneten aus Ostdeutschland (inklusive Ostberlin), ist es jetzt nur noch ein Viertel. Mit Abstand am meisten Abgeordnete der Fraktion entsendet der nach den Grabenkämpfen mit Sahra Wagenknecht schon tot geglaubte Landesverband Nordrhein-Westfalen, nämlich 13.
Die unerwartet guten Westergebnisse führen dazu, dass viele junge Abgeordnete selbst in der Partei kaum bekannt sind. Aus Bayern beispielsweise kommt der erst 24-jährige Passauer Luke Hoss, der aus einer armutsbetroffenen Familie stammt und angekündigt hat, sein Politikergehalt auf 2500 Euro zu beschränken. Fast genauso jung sind die Gewerkschafterinnen Charlotte Neuhäuser (26) aus NRW und Zada Salihovic (25), die sich beide den Kampf gegen prekäre Beschäftigungsverhältnisse auf die Fahnen geschrieben haben.
Bemerkenswert ist auch, dass die Bedeutung etablierter Berufspolitiker zurückgeht. Der Niedersachse Cem Ince, der aus einer in Salzgitter bekannten Gewerkschafterfamilie stammt, arbeitet bei VW. Der Duisburger Mirze Edis ist Stahlarbeiter bei den Hüttenwerken Krupp Mannesmann, und die Bochumerin Cansin Köktürk, die wegen der Migrationspolitik der Ampel-Regierung 2023 bei den Grünen austrat, arbeitet als Sozialarbeiterin in der aufsuchenden Familien- und Jugendhilfe.
Drei Viertel der neuen Fraktion sind neu im Bundestag. Die jüngste Entwicklung – dass die gesellschaftliche Bewegung gegen rechts die Partei durch massenhafte Eintritte regelrecht übernommen hat – wird sich nun auch im Parlament widerspiegeln. Das bringt durchaus auch Probleme mit sich: Viele Abgeordnete sind unerfahren, und die Verlockungen der Berufspolitik haben schon in der Vergangenheit viele Aktivist*innen schneller verändert, als es ihnen selbst und vor allem ihren Wähler*innen recht war. Aber zugleich ist das Ergebnis auch eine Chance: Die neue Fraktion repräsentiert die gesellschaftliche Linke so gut wie lange nicht mehr.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.