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  • Ausstellung Andrea Pichl

Vergangen, übergangen, nachgegangen

Zu Andrea Pichls Ausstellung »Geschichte findet statt« in der Galerie Pankow

  • Vincent Sauer
  • Lesedauer: 4 Min.
Kein Blick hinter die Fassaden ist möglich, das verbietet das Private. Aber immerhin schön bunt.
Kein Blick hinter die Fassaden ist möglich, das verbietet das Private. Aber immerhin schön bunt.

Rund fünf Kilometer entfernt vom großen Gegenwartsmuseum Hamburger Bahnhof in Berlin-Mitte, wo noch bis Anfang Mai Andrea Pichls Ausstellung »Wertewirtschaft« zu sehen ist, liegt die kleine, hervorragend kuratierte Galerie Pankow, die vor allem das Schaffen von ostdeutschen Künstlerinnen und Künstlern ausstellt. Hier eröffnete Andrea Pichl Anfang Februar »Geschichte findet statt«. 1980 deklamierte die Düsseldorfer Band Fehlfarben »Geschichte wird gemacht« in ihrem Song »Ein Jahr (Es geh voran)«; Pichl arbeitet sich nicht an Zukunftsversprechen ab, sondern versteht Geschichte als Palimpsest: überall in der Gegenwart zeigen sich Spuren der Vergangenheit, alte Schichten dringen durch neue, glatte Brüche gibt es nicht.

Wie von Wäscheleinen hängen mit Fotografien bedruckte rechteckige Textilien von der Decke herunter. Man könnte an Bettbezüge oder an Tischdecken denken, die trocknen sollen. Als touristische Erinnerung an die aufgehübschte Fremde taugt das alles aber nicht: Pichl zeigt Zäune, die verbogen sind, Mauern mit unleserlichen Resten von Graffitis. Im Erdgeschoss eines größeren Gebäudes erkennen wir einen leeren Friseursalon, die auf die Fenster gedruckte Sprache des Ladens ist Polnisch. Andere Fotos zeigen verschlossene Türen, daneben Fenster mit Vasen, feste Deko. Maschendrahtzaun und Fenstergitter ergeben Muster. Alles ist menschenleer, die Geometrie bricht sich Bahn. Keine Ruinen, keine Provisorien sind diese Gebäude, aber ein Flickwerk aus Waschbeton, Plastik, Holz, ungestutzter Natur. Kein Blick hinter die Fassaden ist möglich, das verbietet das Private. Hinterlassenschaften von Handwerkern verweisen auf einen Gestaltungswillen, Leerstand in großen, vermutlich öffentlichen Gebäuden, auf Verarmung. Am Boden des zweiten Raums der Ausstellung ist ein gelinde gesagt kitschiger Metallzaun angebracht aus vergoldetem Metall, zigmal neu verschweißt, irgendwie unförmig.

Maschendrahtzaun und Fenstergitter ergeben Muster. Alles ist menschenleer, die Geometrie bricht sich Bahn.

Andrea Pichl beschäftigt sich in »Geschichte findet statt« mit dem Dorf Krzyżowa, das bis 1945 Kreisau hieß, und in der Region Niederschlesien liegt. Pichls Foto entstanden in dem Dorf mit heute wohl rund 200 Einwohnern und Städten der Umgebung, etwa Świdnica (Schweidnitz) und Wrocław (Breslau).

In Kreisau fanden drei Treffen einer Gruppe von Gegnern des Nationalsozialismus statt: Im Mai und Oktober 1942 und zuletzt im Juni 1943 trafen sich im Berghaus des Schlosses der Familie von Moltke Oppositionelle aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen: Adelige, Sozialisten, Protestanten und Katholiken kamen zusammen. Sie konzipierten eine Neuordnung Deutschlands nach dem Ende der NS-Herrschaft, die frei sein sollte von Nationalismus, Unterdrückung, Ausbeutung. Helmuth James Graf von Moltke und seine Frau Freya organisierten die Treffen. Ein gewalttätiger Umsturz wurde von der Gruppe abgelehnt, was sie vom konservativen Widerstand der Goerdeler-Gruppe oder Stauffenbergs unterschied. Am 19. Januar, also einige Monate vor dem missglückten Anschlag auf Hitler am 20. Juni, wurde Helmuth von Moltke von der Gestapo verhaftet und schließlich im Januar 1945 in Plötzensee ermordet.

Andrea Pichl hat für die Ausstellung auch einen Film aus Fotografien aus den oben genannten Städten und Dörfern, auch vom Land dazwischen, gebaut. Sie sammelt Details, demonstriert nebenbei, wo und wie sich Geschichte zeigen darf und wo und wie nicht. In gewisser Weise bekommt man Häuser aus deutschen Zeiten mit sozialistisch hergestellten Zäunen im Zustand kapitalistischer Vernachlässigung des öffentlichen Raums zu sehen. Die Künstlerin liest aus Briefen von Helmuth und Freya von Moltke: Er schreibt aus dem Gefängnis, weiß um das Todesurteil, muss der Zensur wegen alles vorsichtig formulieren. Freya hat diese Briefe in einem Bienenstock im Schloss versteckt.

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Während Pichl liest, wechseln sich Fotos ab, die wiederum keine Menschen zeigen, zweimal sieht man Hühner, einmal einen Hund, einmal eine Kuh, hin und wieder Landwirtschaft, sonst Architektur: geschichtsklitternder Beton, im doppelten Sinne alleinstehende Häuser, beeindruckende moderne Plätze aus sozialistischen Zeiten, schöne Fensterfronten, verwaiste öffentliche Plätze — all das wechselt sich ab, während im Hintergrund Pichl Freya von Moltkes Erinnerungen über die Geschichte des Kreisauer Kreises vorliest. So entsteht ein Wechselspiel aus Erinnerungen an faschistische Verbrechen, menschlichem Widerstand und geschichtsvergessenen Oberflächen.

Andrea Pichl gelingt, mit einem ausgeprägten archäologischen Gespür für die Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit von Geschichte, Denkräume über eine deutsche und polnische Geschichte zu schaffen. Sie findet in der unauffälligsten Ecke ein potenzielles Dokument für historische Prozesse. Wie die eingangs erwähnte Ausstellung »Wertewirtschaft«, die sich u. a. mit der Genex Geschenkdienst GmbH befasst, die Westdeutschen ermöglichte, ihren ostdeutschen Verwandten etwa Fertighäuser zu kaufen, ist auch »Geschichte findet statt« eine subtile Installation, durch die kaum jemand nickend oder kopfschüttelnd gehen wird. Statt mit einem neuen Urteil die Galerie Pankow zu verlassen, helfen Pichls Arbeiten — und das ist nachhaltiger — die eigene Lebenswelt wieder genauer zu betrachten, offene Augen für die Geschichte an Orten zu haben, die immer mehr geglättet werden.

Andrea Pichl: »Geschichte findet statt«, bis 30. März 2025, Galerie Pankow, Breite Straße 8, Dienstag bis Freitag 12 bis 20 Uhr, Samstag und Sonntag 14 bis 20 Uhr, Eintritt frei

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