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Wie Pilze aus dem Boden: Messer-Verbotszonen in Berlin
Messergewalt und Verbotszonen sind omnipräsent. Ein Kriminologe und ein Anwalt klären auf, was hinter Zahlen und Gesetzen steckt
»Ein bisschen wie Pilze aus dem Boden« schössen derzeit Verbotszonen für Messer, sagt der Kriminologe Dirk Baier. Seit 2015 leitet er das Institut für Delinquenz und Kriminalprävention an der Zürcher Hochschule. »Wir stecken in dieser Idee drin, dass Deutschland den Bach runtergeht und die Kriminalität zunimmt«, meint Baier. Darum widerspreche auch niemand, wenn die Politik Messerverbotszonen schaffe, wie sie in Berlin seit Kurzem existieren. Schließlich dominieren Schlagzeilen zur Messerattacke am Holocaust-Mahnmal in Berlin oder zur Messergewalttat in Aschaffenburg politische Debatten.
Für die drei Berliner Messerverbotszonen rund um das Kottbusser Tor sowie den Görlitzer Park in Kreuzberg als auch den Leopoldplatz in Wedding gilt, dass das Mitführen eines Messers seit dem 15. Februar als Ordnungswidrigkeit geahndet werden und die Polizei anlasslos jede Person kontrollieren und durchsuchen kann. Der Kriminologe Dirk Baier und der Rechtsanwalt David Werdermann erklären im Gespräch mit »nd«, was es mit der Statistik zur Messerkriminalität auf sich hat, warum Waffenverbotszonen nicht den gewünschten Effekt nach sich ziehen und welche Folgen mit den erweiterten Befugnissen der Polizei stattdessen verbunden sind.
Von einzelnen Gewalttaten abgesehen – warum ist die Diskussion über Messer in Politik und Medien allgegenwärtig? Anlass dafür sind Zahlen der polizeilichen Kriminalitätsstatistik (PKS), laut denen Messerkriminalität zunimmt. In Berlin ist sie demnach von 2021 auf 2022 um fast 20 Prozent gestiegen. Von 2022 auf 2023 stieg sie um fünf Prozent, insgesamt gab es 3482 Messerangriffe.
Zwei Punkte merkt der Kriminologe Dirk Baier zu den Daten an: »Die Statistik gibt es erst seit 2021, und immer wenn die Polizei eine Änderung ihrer Erfassungsroutinen einführt, braucht es einfach Zeit, bis das in jeder Polizeidienststelle von allen gleich gemacht wird.« So könne eine Polizeidienststelle eine Drohung als Messerkriminalität registrieren, eine andere hingegen nicht. »Und das Zweite ist natürlich die Frage der Anzeige«, sagt Baier. Die Kriminalitätsstatistik zeigt nur, was zur Anzeige kommt – in Österreich heißt sie darum Anzeigestatistik. Laut Baier würden Fälle schwerer Körperverletzung nur zu etwa 50 bis 60 Prozent angezeigt. »Jetzt ist das Problem, dass wir in den letzten zwei Jahren so viel über Messer geredet haben, dass es wahrscheinlich ist, dass aus dem Dunkelfeld auch in den letzten Jahren mehr ins Hellfeld kommt, weil mehr Menschen anzeigen, weil sie sensibilisiert sind«, meint Baier. »Die Zahlen wirken immer so super genau, so genau sind sie letztlich nicht«, sagt der Kriminologe.
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Ignorieren solle man die Zahlen zur Messergewalt dennoch nicht – stattdessen solle man sie mit weiteren Daten kombinieren, etwa von Bundespolizei oder Krankenhäusern. Die Charité Berlin vermeldete für 2024 einen deutlichen Anstieg der Zahl der Stichverletzungen. Und was hat es mit Aussagen von Berlins Polizeipräsidentin Barbara Slowik Meisel auf sich, dass Gewalt in Berlin »jung« und »männlich« sei sowie einen »nicht-deutschen Hintergrund« habe?
Das Grundproblem sei, so Baier, dass die Aussage auf den Daten der PKS fuße. Alter, Geschlecht, Staatsangehörigkeit, die Informationen, die die Polizei zu Tatverdächtigen erhebt, nenne man in der Kriminologie »Containervariablen«. Für sich genommen erklärten sie gar nichts – stattdessen stigmatisierten sie. »Und das führt dazu, dass wir jungen, männlichen, ausländisch aussehenden Personen mit noch mehr Skepsis begegnen«, meint er. Was wiederum dazu führe, dass die stigmatisierten Personen das merkten und sich Fragen stellten wie »Was macht denn das Land hier mit mir?«, sagt Baier. Seiner Meinung nach lenken solche Aussagen wie die von Slowik Meisel die Aufmerksamkeit auf falsche Informationen. Spannender sind für den Kriminologen hingegen solche zu Persönlichkeitsmerkmalen oder Sozialisation, die helfen könnten, Prävention zu initiieren.
Gewaltprävention ist Baiers Steckenpferd. Die Ursachen, die die Kriminologie für Messerkriminalität kenne, seien nahezu identisch mit den Ursachen für Gewaltkriminalität. »Das heißt, wir haben es mit Menschen zu tun, die eher eine geringe Selbstkontrolle haben, die also weniger planend und eher impulsiv unterwegs sind«, sagt Baier. Alkohol- und Drogenkonsum spielen eine Rolle. »Das sind Personen, die integriert sind in Subkulturen oder Freundesgruppen, wo es ein Stück weit dazugehört, Gesetze zu brechen«, erklärt er. Auch psychische Thematiken können hinter Gewalttätern stehen. Und vor allem sind es Männer.
»Das ist vor allem Symbolpolitik.«
David Werdermann Rechtsanwalt
Doch bei den Waffenverbotszonen geht es um die Waffe statt um die Köpfe – das sei laut Baier der Fehler. Es müsse stattdessen darum gehen, möglichst frühzeitig junge Menschen dazu zu befähigen, Empathie zu empfinden, Konflikte friedlich zu lösen und sich selbst ein Stück zurückzunehmen. In Berlin würden beispielsweise im Präventionsprojekt »Papilio« frühzeitig Kinder über mehrere Wochen hinweg geschult, »gewaltdistante« Persönlichkeitseigenschaften aufzubauen. Gerade an Schulen müsse mehr Geld fließen, um Gewalttaten zu mindern – seit Corona ließe die Förderung jedoch nach.
Stattdessen würde man lieber strafen, was sich auch in Forderungen zur Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters zeige. Maßnahmen wie Messerverbotszonen sind schnell umgesetzt – doch es gibt keine Studien, die zeigen, dass sich die Kriminalität reduziert oder das Sicherheitsgefühl erhöht. Stattdessen verweist der Kriminologe auf die einzigen zwei deutschen Studien zu Verbotszonen aus Wiesbaden und Leipzig, die keinen Rückgang der Kriminalität zeigen. Nur in Leipzig habe man auch das Sicherheitsgefühl der Menschen untersucht – auch hier gebe es keine Verbesserung. Aussagen wie von Berlins Innensenatorin Iris Spranger (SPD), die Polizei habe am 18. Februar allein am Leopoldplatz 14 Messer in der Verbotszone sichergestellt, beweisen laut Baier nur, dass die Polizei ihre Arbeit macht.
Genau bei dieser Polizeiarbeit sieht David Werdermann von der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) Probleme: Denn anlasslose Kontrollen können tödliche Folgen haben. Die Polizei gehe bei der Auswahl der Kontrollierten »zwangsläufig nach dem äußeren Erscheinungsbild« vor, so Werdermann. Darum seien anlasslose Kontrollen immer ein Einfallstor für Racial Profiling und andere diskriminierende Auswahlmethoden. Als diskriminierend fasst er auch die Auswahl der drei Berliner Waffenverbotszonen auf, obwohl es auch an anderen Orten statistisch gesehen viel Gewaltkriminalität gibt. In allen drei Verbotszonen halten sich besonders viele Migrant*innen und Drogenkonsument*innen auf. Der Leopoldplatz, der seit 2018 kein kriminalitätsbelasteter Ort (KBO) mehr ist, wird nun als Verbotszone wieder stigmatisiert, die Polizei mit denselben Rechten wie an einem KBO ausgestattet. »Es ist damit zu rechnen, dass an diesen Orten noch mal verstärkt anlasslos kontrolliert wird«, sagt der Jurist.
Das sei eine Politik, die einerseits versuche, ein Sicherheitsgefühl zu vermitteln, und sich andererseits gegen marginalisierte Gruppen richte, so Werdermann, der auch von »Symbolpolitik« spricht. »Wer wirklich eine Straftat begehen will, der lässt sich davon auch dort nicht abhalten«, sagt er. Ein Argument, das auch die Gewerkschaft der Polizei formuliert. Stattdessen gehe von den anlasslosen Kontrollen und Durchsuchungen ein »gravierender Grundrechtseingriff« aus, so Werdermann. Die Gesellschaft für Freiheitsrechte befürchtet, dass Messerverbotszonen ein Einfallstor für weitere solcher Maßnahmen sein können.
Der Verein beobachte, dass bestimmte Methoden bei bestimmten Personengruppen »ausgetestet« werden und sich danach ausdehnen, so Werdermann. Es gebe die Tendenz, polizeiliche Befugnisse zu erweitern, sie aber nicht wissenschaftlich zu überprüfen oder gar zurückzunehmen. »Da kommt dann immer das Argument: Wir brauchen sie, weil wir ja gesehen haben, dass es ohne diese Befugnisse vielleicht noch schlimmer wäre«, sagt der Rechtsanwalt. Der Kriminologe Dirk Baier spricht im Zusammenhang mit dieser Art von Sicherheitspolitik von einem Motiv, mehr Sicherheit zu schaffen, was die Bevölkerung befürworte. »Zu versuchen, dagegen argumentativ anzukämpfen – das ist echt schwierig«, sagt er. Doch wenn wir nicht achtsam seien, endeten wir in einem System, »in dem jeder Mensch Tag und Nacht überwacht wird, in dem Menschen einsortiert werden, ob sie sich gut verhalten oder schlecht verhalten«.
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