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Für eine Demokratisierung der Türkei
Rosa Burç hält die Erklärung des PKK-Gründers Abdullah Öcalan für eine Chance auf demokratische Veränderung n der Region
Der Aufruf von Abdullah Öcalan für eine Entwaffnung und Auflösung der PKK wirkt auf den ersten Blick irritierend. Der Autoritarismus schreitet in der Türkei in allen Lebensbereichen voran, gewählte Bürgermeister*innen werden abgesetzt, oppositionelle Journalist*innen festgenommen. Täglich gibt es türkische Drohnenangriffe mit zahlreichen zivilen Opfern im syrischen Nordosten.
In dieser Gemengelage ertönt der Ruf nach Frieden und einer demokratischen Gesellschaft, verlesen von einer politischen Delegation, die den inhaftierten und seit zehn Jahren fast vollständig isolierten Gründer der PKK seit Oktober 2024 dreimal besuchen durfte. Die Erklärung wird als historische Weichenstellung verstanden und erinnert an eine Pressekonferenz im März 1993. Damals verkündete Öcalan in Anwesenheit kurdischer, türkischer und internationaler Beobachter*innen einen einseitigen Waffenstillstand – mit dem Zusatz, dass die kurdische Freiheitsbewegung von nun an keine separatistischen Ziele mehr verfolge. In einem symbolischen Akt war Öcalan in Zivilkleidung und mit Krawatte vor die Kameras getreten und hatte betont, dass seine Ankündigung nicht als einfaches taktisches Vorgehen verstanden werden sollte. Die historischen, politischen und wirtschaftlichen Beziehungen der Völker dürften nicht durch ethnische und territoriale Grenzen getrennt werden. Seither ist es das erklärte Ziel des kurdischen Freiheitskampfs, die geschlechtlichen und gesellschaftlichen Machtverhältnisse zu demaskieren und neue Beziehungen der Menschen untereinander zu schaffen.
Die ideologische Neuausrichtung der PKK in den 1990er Jahren hat neue Formen des Widerstands ermöglicht. Die feministische Jin-Jiyan-Azadi-Bewegung ist noch Jahrzehnte später über Landesgrenzen hinweg geschwappt.
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Auch damals stieß die Erklärung auf Kritik. Während andere antikoloniale Bewegungen den Zerfall der Sowjetunion als Möglichkeitsfenster zur Errichtung neuer Nationalstaaten sahen, fand in der kurdischen Freiheitsbewegung ein ideologischer Transformationsprozess statt. Freiheit sollte nicht über neue Grenzziehungen, sondern über eine Demokratisierung der Gesellschaften erreicht werden.
Heute lässt sich kaum leugnen, dass die ideologische Neuausrichtung der PKK in den 90er Jahren nicht nur neue Formen des Widerstandes, sondern auch das politische Überleben der Bewegung ermöglichte. Aus einer militanten Organisation wurde eine transnationale soziale Bewegung mit autonomen Strukturen. Die feministische Jin-Jiyan-Azadi-Bewegung beispielsweise ist noch Jahrzehnte später über Landesgrenzen hinweg geschwappt.
Auch wenn der Friedensaufruf von Öcalan anders als vergangene Friedensprozesse nicht in der Öffentlichkeit vorbereitet wurde, sondern durch den Regimewechsel in Damaskus auf die Agenda staatlicher Akteure kam, steht die neue Erklärung in der Kontinuität der politischen Neuanfänge der kurdischen Bewegung.
Viele Fragen bleiben unbeantwortet, aber für den Moment ist klar: Auch wenn es nicht die erste Friedensinitiative der kurdischen Bewegung ist, steht diese im Zusammenhang mit der neuen geopolitischen Konstellation nach Assad. Ziel von Öcalans Aufruf ist die Stärkung einer demokratischen Gesellschaft und die Infragestellung von Herrschaftssystemen, die Gesellschaften in Mehrheiten, Minderheiten, Ethnien, Nationen und Territorien fragmentieren. Vor allem jedoch ist der Aufruf ein Versuch, die existenzielle Gefahr für Rojava und die emanzipativen Bewegungen in der Region abzuwehren. Denn die Lage dieser Bewegungen ist höchst prekär.
Nun sind alle Augen auf die Türkei gerichtet. Der türkische Staat steht unter Zugzwang, die politischen, rechtlichen und moralischen Rahmenbedingungen zu schaffen, die für die Umsetzung eines Friedensprozesses notwendig sind. In einer sich machtpolitisch wandelnden Region wird Ankara daran gemessen werden.
Rosa Burç ist Wissenschaftlerin und forscht seit vielen Jahren zum Feminismus in der kurdischen Bewegung.
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