Die Zugkümmerer

Kundenbetreuer heißen die Schaffner heute bei der Bahn. Sie sind das Gesicht einer kriselnden Branche und muss Fahrgäste immer häufiger besänftigen

  • Martin Reischke
  • Lesedauer: 8 Min.
Eisenbahnunternehmen suchen händeringend nach Zugbegleitern.
Eisenbahnunternehmen suchen händeringend nach Zugbegleitern.

Frank Spielhagen steht an Gleis 1 des Berliner Bahnhofs Ostkreuz und wartet auf seinen Zug. Dienstbeginn für den 59-Jährigen. Er ist Servicemitarbeiter im Nahverkehr bei der Ostdeutschen Eisenbahngesellschaft, kurz ODEG. Als privates Verkehrsunternehmen betreibt die ODEG im Auftrag der jeweiligen Bundesländer verschiedene Regionalbahnlinien in Ostdeutschland, zum Beispiel den Regionalexpress 1 auf der Fahrt von Berlin nach Brandenburg an der Havel. Der Zug mit acht Waggons kommt langsam zum Stehen, Frank Spielhagen kennt ihn aus dem Effeff. »Das ist die Doppeltraktion: Vorne vier Waggons, hinten vier Waggons«, sagt er. »Und das ist jetzt unser Aufenthalt bis Brandenburg hier hinten.« Spielhagen zeigt auf das Ende des Zuges. Er steigt ein und verschwindet im hinteren Führerstand – dem Teil des Zuges, der dem Personal vorbehalten ist. Es ist 14.08 Uhr, der Regionalzug setzt sich langsam in Bewegung. Für die nächsten neun Stunden kontrolliert Spielhagen Tickets, hilft Rollstuhlfahrern beim Ein- und Aussteigen oder informiert die Reisenden.

Spielhagen ist noch nicht einmal zwei Jahre bei der ODEG, er hat schon ein ziemlich buntes Berufsleben hinter sich: Imker, Dachdecker, Kurierfahrer und Hähnchenverkäufer – und nun eben die ODEG. Dort freue man sich über Menschen wie ihn, sagt ODEG-Geschäftsführer Lars Gehrke. Denn für die Reisenden sind die Servicekräfte im Nahverkehr das Gesicht des Unternehmens – und damit ein wichtiges Bindeglied zwischen der Bahn und ihren Kunden.

»Wir versuchen jeden abzuholen, der potenziell für die ODEG interessant sein könnte«, sagt Gehrke. Ob Jobmessen, Info-Stände in der U-Bahn oder Werbung in den eigenen Zügen: Die ODEG nutzt viele Möglichkeiten, um an Personal zu kommen. Denn Menschen, die Fahrgäste im Zug betreuen, sind nicht so einfach zu finden. Das weiß auch Simon Milewski, der als Recruiter für die Deutsche Bahn (DB) arbeitet. Gerade in Berufen, die dafür sorgen, dass die Züge von A nach B kommen, sucht die Deutsche Bahn händeringend Personal – also etwa als Lokführer, Gleisbauer oder Fahrdienstleiter, die den Bahnverkehr koordinieren. Allein im vergangenen Jahr hat der Konzern nach eigenen Angaben mehr als 25 000 neue Mitarbeiter eingestellt, davon rund 2000 als Servicemitarbeiter im Zug.

Trotzdem gibt es viele unbesetzte Stellen. Wie viele Servicemitarbeiter genau fehlen, dazu will sich die Deutsche Bahn auf Nachfrage nicht äußern. Bei der DB heißt dieser Job im Fernverkehr »Zugbegleiter« und »Kundenbetreuer« im Nahverkehr. Der traditionelle Weg zum Beruf ist eine dreijährige Ausbildung zum Kaufmann für Verkehrsservice. Maximilian Helmschmied hat sie absolviert und so verschiedene Arbeitsbereiche bei der Bahn kennengelernt. Der 24-Jährige ist stellvertretender Bundesjugendleiter der Gewerkschaft deutscher Lokomotivführer (GdL). Als Fachtrainer bildet er in Leipzig selbst Kundenbetreuer für den Nahverkehr aus – nur dass diese heutzutage als Quereinsteiger in den Job kommen. Denn die Ausbildung zum Kaufmann für Verkehrsservice, wie Helmschmied sie vor einigen Jahren absolviert hat, bietet DB Regio, die Nahverkehrssparte der Deutschen Bahn, gar nicht mehr an. Das bedeutet: statt drei Jahren Ausbildung nur noch drei Monate Umschulung.

»Das ist natürlich eine Art Schnellbesohlung im Vergleich zur Ausbildung, wo man viel mehr Zeit hat und auch eine kaufmännische Ausbildung absolviert«, sagt Helmschmied. Bei Frank Spielhagen, der für die ODEG arbeitet, ging es sogar noch schneller. Weil er schon Berufserfahrung im Servicebereich hatte, dauerte die Umschulung nur sechs Wochen. In den ersten 14 Tagen lernte er die verschiedenen Tarife genauso wie die Fahrgastrechte und Beförderungsbestimmungen, danach wurde er im Zug geschult. Andere Interessenten ohne passende Vorerfahrung werden bei der ODEG für drei Monate weitergebildet. Das Unternehmen begründet die kurze Umschulzeit damit, dass die Servicemitarbeiter keine betrieblichen Aufgaben übernehmen würden, die für die Sicherheit des Zuges relevant sind, etwa das Erkennen von Stopp-Signalen oder Geschwindigkeitsbegrenzungen.

Doch umfangreiches Wissen zum System Eisenbahn ist wichtig, denn in Spielhagens Arbeitsalltag tauchen regelmäßig unerwartete Situationen auf. Eine Streckensperrung lässt die Fahrt des Zuges, der eigentlich bis nach Brandenburg an der Havel fahren sollte, heute schon am Potsdamer Hauptbahnhof enden. Spielhagen informiert die Fahrgäste über die veränderten Anschlüsse. Auf dem Weg zurück nach Berlin kontrolliert er Fahrkarten.

Semesterausweis, Einzelfahrschein, 49-Euro-Ticket – das Fahrkartensystem sei in Deutschland ziemlich kompliziert, meint Gewerkschafter Maximilian Helmschmied. »Wenn ich hier in Leipzig als Kundenbetreuer anfange, habe ich sieben bis neun verschiedene Verkehrstarife«, sagt er. »In einem gilt man bis zum 13. Lebensjahr als Kind, im nächsten bis zum 15. und in einem anderen ist es wieder anders. Es gibt sehr unterschiedliche Regelungen. Die muss ich natürlich alle lernen.« Für Bewerber aus dem Ausland könne außerdem die deutsche Sprache eine Herausforderung sein. Helmschmied hält gute Deutschkenntnisse für unverzichtbar: »Als Kundenbetreuer geht es um Kommunikation mit Leitstellen, mit Triebfahrzeugführern, mit Reisenden. Man muss Ansagen machen und Informationen weitergeben.«

Sprachniveau B2, also umfangreiche Kenntnisse in geschriebener und gesprochener Sprache, müssen die Bewerber deshalb vorweisen, wenn sie bei der Deutschen Bahn oder anderen Eisenbahnunternehmen Kundenbetreuer werden wollen. Bei der Bezahlung der Mitarbeiter sei man eigentlich auf einem guten Weg, findet Helmschmied. Derzeit verdienen die Servicekräfte – egal ob im Nah- oder Fernverkehr – bei einer Wochenarbeitszeit von 38 bis 39 Stunden zum Einstieg monatlich etwa 2800 Euro brutto. Schwierig findet er eher, dass die Arbeit schwer zu planen sei. Wenn es mal wieder kurzfristige Streckensperrungen oder Umleitungen gebe, habe das auch Auswirkungen auf seinen Job. »Dann reden wir über Dienstverlängerungen von einer halben bis zu zwei Stunden«, sagt Helmschmied. »Als Mitarbeiter wissen wir alle, dass wir im Schichtdienst arbeiten. Aber dann ein oder zwei Tage vorher von unserem Disponenten einen Anruf zu bekommen, der sagt: ›Deine Schicht, die ist jetzt zwei Stunden länger geworden‹ – das ist natürlich schwierig zu organisieren, weil ich als Mitarbeiter mein Privatleben ja um die Dienstzeiten herum plane. Wer holt jetzt mein Kind mal aus dem Kindergarten ab?«

Zurück zu Frank Spielhagen im Regionalzug zwischen Potsdam und Berlin. Bei seinem Kontrollgang durch den Zug hat er noch keine Fahrgäste ohne Ticket angetroffen. Wenn das passiert, soll er situationsbedingt reagieren. So hat er es in einem Deeskalationstraining im Rahmen der Schulung gelernt. »Wir machen das alles nicht zu 120 Prozent genau. Wenn man dann freundlich gefragt oder die Situation erklärt wird, dann drückt man schon mal ein Auge zu«, sagt Spielhagen. »Wenn der Fahrgast aber gleich aggressiv wird, ist Schluss mit lustig. Wir haben hier Hausrecht, und das setzen wir dann natürlich auch durch.«

Doch Diskussionen mit Fahrgästen können auch eskalieren. Manche Kollegen, erzählt Spielhagen, würden sich das Leben unnötig schwer machen. »Die springen dann mit auf diese Schiene auf und werden selber auch noch aggressiv. Das muss nicht sein«, findet er. »Wenn man ruhig bleibt, freundlich und bestimmt, funktioniert das zu 90 Prozent ganz gut. Und die restlichen zehn Prozent, da rufen wir halt die Polizei, die klärt den Rest.«

Im Idealfall zumindest. Generell sei die Situation für Mitarbeiter riskanter geworden, sagt Lars Gehrke, Geschäftsführer der ODEG. Die Zahl der Übergriffe durch Fahrgäste nehme zu. Die Deutsche Bahn verzeichnete 2023 mehr als 3100 körperliche Übergriffe auf ihre Mitarbeiter, knapp die Hälfte davon betraf das Zugpersonal im Nahverkehr. Damit hat auch die ODEG Erfahrung. »Die körperlichen Angriffe gegenüber unseren Mitarbeitenden werden tatsächlich immer schlimmer«, sagt Gehrke. »Und das führe ich nicht auf eine Baumaßnahme oder verspätete Züge zurück. Das sind Themen, die unsere Gesellschaft grundsätzlich in den letzten Jahren immer mehr betreffen.«

Die häufigen Verspätungen sorgen aber dennoch für schlechte Stimmung im Zug. In solchen Situationen würden sich die Kundenbetreuer oder Zugbegleiter oft alleingelassen fühlen. Wenn es keine Zwischenfälle gebe, sei der Betrieb angenehm, sagt Maximilian Helmschmied. »Aber wenn dann irgendetwas passiert, dann meistens nicht nur einmal was, sondern gleich mehrere Dinge, weil ja alles wie Zahnräder ineinander greift. Und dann habe ich so viele Themen, dass die Leitstelle überfordert ist.« Sie ist dafür zuständig, den Zugverkehr zu koordinieren. Auf schnelle Informationen zum Grund von Störungen warte man aber oft vergebens. »Und das Zugpersonal muss sich dann die Informationen selber suchen, um zu schauen: Was mache ich mit meinen Fahrgästen?«, kritisiert Helmschmied.

Auch Frank Spielhagen kennt die Situation. Wenn sein Zug außerplanmäßig zum Stehen kommt, versucht er, die Fahrgäste innerhalb von drei Minuten über die Gründe zu informieren. »Der Informationsaustausch muss laufen. Ich frage schon mal nach, ob wir irgendwelche Probleme haben«, erzählt er. »Dann kann ich es durchsagen. Das beruhigt auch die Leute. Wenn sie keine Informationen haben, werden sie hibbelig.«

Teils aggressive Fahrgäste, schwer kalkulierbare Schichtarbeit, Zugausfälle und Verspätungen. Eigentlich gäbe es viele Gründe, sich einen anderen, vielleicht einfacheren Job zu suchen. Aber Spielhagen arbeitet trotzdem gerne als Zugbegleiter. »Es ist ein abwechslungsreicher Beruf, nie langweilig«, sagt er. Nach drei Stunden ist die Regionalbahn zurück am Berliner Ostbahnhof. Die Fahrgäste verlassen die Bahn, dann steigt auch Spielhagen aus. Er hat 25 Minuten Pause, Zeit für eine Zigarette. Dann fährt er mit dem nächsten Regionalexpress wieder raus nach Brandenburg.

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