Keine Meinung zu Nahost

Was tun, wenn man alle Konfliktseiten eher doof findet?

  • Klaus Ungerer
  • Lesedauer: 3 Min.
Alle sollen mal gefälligst einen Ölzweig im Schnabel halten.
Alle sollen mal gefälligst einen Ölzweig im Schnabel halten.

Ich traue mich ja kaum, diesen Text zu schreiben. Er handelt von dem, was seit meiner Kindheit als Nahost-Konflikt bezeichnet wird. Und wer weiß, wer das jetzt alles lesen könnte und wie viele Tausende Menschen ich mir zu Feinden mache, wenn ich das Thema auch nur ungeschickt berühre. Wer weiß, wie sehr diese neuen Feinde sich täglich mehr radikalisieren.

Als ich noch jung und naiv war, lebte ich in dem Grundgefühl, der Nahost-Konflikt gehe mich nichts an. Er war zwar ein Dauerthema in Wilhelm Wiebens »Tagesschau«, aber erklärt wurde er nie. Nahost-Konflikt, das klang nach einem ungelösten seelischen Trauma: Der Nahe Osten, als Region so, hat irgendwie ein Problem. Damit konnte man es bewenden lassen.

Doch die Zeit des Schulterzuckens ist vorbei. Neulich saß ich vor dem Frisörladen um die Ecke, denn der Frisörladen hat so eine gemütliche Bank vor der Tür. Man kann dort gut sitzen, eine schmöken, kann ein Bier genießen mit Blick auf die Fassade gegenüber, an der seit Monaten eine Palästinafahne hängt. Ich kenne den Mann, der die Fahne aus dem Fenster gehängt hat, Hörgeräteakustiker, ein netter, besonnener Mensch. Ich kenne auch die Frisörin, die sich kürzlich nach ihrem Feierabend zu mir setzte mit dem atemraubend raschen Gedankenflug:

»Ich gehe gleich zu einem Konzert einer ganz tollen israelischen Sängerin. Auf welcher Seite bist du denn eigentlich?«

Ich wusste natürlich sofort, was gemeint war, und ich sagte zu der Frisörin:

„Ich bin auf der Seite, die für Frieden, Liebe und Menschenrechte ist, und die mit Nationalfahnen, mit Rassismus und religiös motiviertem Hass nicht so viel anfangen kann.“

Ich schwöre, so oder ähnlich sagte ich es! Ich kam mir relativ schlagfertig vor.

Die Frisörin fand, dass man weiterhin mit mir sprechen könne, und sie sagte: Sie sei immer auf der Seite derjenigen, die schon immer unterdrückt, misshandelt und verfolgt worden seien! Dazu nickte ich, denn es klang nach einer vertretbaren Position. Bald fuhr die Frisörin los Richtung Friedrichshain, ich konnte mir eine anzünden, zufrieden im sicheren Unterstand meiner harmonischen Utopie.

Jedoch, die Einschläge kommen näher, selbst für den Ästheten, der sich stets als außer- und oberhalb jeder Politisierung empfunden hat. Nicht einmal der Neutralitätsstatus als Journalist hilft einem mehr: »Taz«-Redakteur Nicholas Potter ist jetzt selbst zur Nachricht geworden, denn er hat sich in den Nahost-Konflikt begeben. Er hat über antisemitische Propaganda hierzulande und deren wahrscheinliche Verbindungen nach Moskau recherchiert, worauf eine Hetzjagd auf ihn anhob, zunächst auf Social Media, dann auch im Real Life: In Berlin sind Aufkleber aufgetaucht, die Potter zum Ziel des Hasses machen. Seine Chefredaktion hat sich öffentlich solidarisiert, die Gewerkschaft DJU bestätigte seine Beobachtungen: Es gebe zunehmend eine »hybride Form der Propaganda, orchestriert durch Akteure, die gezielt Desinformation und Hetze einsetzen, um unabhängigen Journalismus zu untergraben«. Potter hat zuletzt mutig nachgelegt: Auf Demonstrationen gebe es zunehmende Bedrohung und Gewalt gegen Berichterstattende, die von pro-palästinensischen Aktivisten ausgehe.

Nicht gut, wenn Berichterstattende Angst haben müssen. So wird das Gift in unsere Gesellschaft eingeträufelt. Alle werden immer radikaler. Wenn ich jetzt auch nur eine Silbe darüber schriebe, wäre ich dran. Die Frisörin verwiese mich ihrer Bank, der Hörgeräteakustiker schlüge mir mein Bier aus der Hand, und daher, sorry, werde ich zum Nahost-Konflikt einfach weiterhin keine Meinung haben.

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