Istanbuler Träume

Die Musikszene in der türkischen Metropole hat es nicht leicht – das liegt nicht nur an der Regierung, sondern auch an der Ignoranz des Westens

  • Jan Paersch
  • Lesedauer: 6 Min.
Borusan Istanbul Philharmonic Orchestra in voller Pracht. Bisher noch nie in Hamburg. Aber jetzt.
Borusan Istanbul Philharmonic Orchestra in voller Pracht. Bisher noch nie in Hamburg. Aber jetzt.

Ein Fernseher ist ein Fernseher und seine Programmierung keine Kulturdoktrin. Doch zuweilen setzt auch Triviales Zeichen. Die Programmbelegung in meinem Istanbuler Hotel: CNN und Al Jazeera, iranische und russische Sender. Europäische sind nicht zu finden.

Deutschland mag noch immer Exportziel Nummer eins sein, aber es scheint, dass sich die Türkei in den letzten Jahren eher abwendet; auch die Kultur. Beispiel: Hamburg. Hunderte verschiedene Orchester haben seit Anfang 2017 in der Elbphilharmonie gespielt. Aber das Borusan Istanbul Philharmonic Orchestra, kurz BIPO, wird im September als Erstes türkisches Orchester überhaupt im Großen Saal des Konzerthauses auftreten. Wie kann das sein?

»Was fragen Sie mich das?«, Zeynep Kocabıyık Hamedi dreht die Handflächen nach oben.

Die Frau mit den Lachfältchen um die Augen und der auf dem Handrücken tätowierten Feder (»Sie hat mich nach schweren Zeiten daran erinnert, dass es im Leben noch leichte Dinge gibt«) ist die Tochter von Asım Kocabıyık. Kocabıyık begann 1944 im Stahlgeschäft, mittlerweile ist der von ihm gegründete Industriekonzern Borusan weltweit in diversen Branchen tätig. Laut Website beschäftigt die Firma 14 000 Menschen auf drei Kontinenten. An den Kocabıyıks liegt es eher nicht, dass die türkische Kultur in Mitteleuropa oft ignoriert wird.

Viele spielen auch Jazz und Pop, beginnen vormittags mit den Proben für eine Band und beenden den Tag nach 22 Uhr mit einer anderen.

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Borusan ist seit Jahrzehnten engagiert mit einer Kultur-Stiftung, gibt Kunstbücher heraus, unterstützt junge Musikstudent*innen und einen Kinderchor. Und der Konzern finanziert das BIPO, eines der renommiertesten Orchester der Türkei. Das Orchester mit bis zu 120 Musiker*innen entwickelte sich um die Jahrtausendwende aus einem Kammerorchester heraus, spielte bereits in London und Brüssel, seit 2024 geleitet vom italienischen Dirigenten Carlo Tenan.

»Mein Vater hat sich aus einfachen Verhältnissen aus einem Dorf hochgearbeitet«, sagt Zeynep Kocabıyık Hamedi, »er wollte dem Land etwas zurückgeben. Seine Liebe zu Sprachen und zur Musik hat er uns Kindern mitgegeben. Ob es Unterschiede zwischen Ost und West gibt? Politiker sehen das vielleicht so, aber ich bin keine Politikerin. Die Grenzen haben diese Leute doch im Kopf.«

Die Managerin betont den familiären Charakter ihres Unternehmens. Selbst auf der Management-Ebene sei das Geschlechterverhältnis ausgeglichen.

»Borusan ist ein Traum für klassische Musiker«, sagt einer, der es wissen muss. Cenk Erdoğan ist Gitarrist von internationalem Rang und Grammy-Gewinner, spielt Jazz und Rock, aber auch Adaptionen von Sergej Rachmaninow. Der gebürtige Istanbuler, dessen Nachname in der Türkei häufig vorkommt, kennt fast jeden im BIPO. Er hat in Bands von Pop-Superstars wie Sezen Aksu früher gutes Geld verdient, aber er sagt: Das Geschäft ist härter geworden.

»Jeder will für Borusan spielen; sie haben auch ein Music House in der Innenstadt mit experimentellen Konzerten. Das ist großartig, aber du musst Jahre warten, um dort ein Konzert zu spielen, die Warteliste ist sehr lang.«

Das BIPO schöpft aus einem Pool von 300 Musiker*innen, die nicht angestellt sind und als Freelancer auf andere Engagements angewiesen sind. Viele spielen auch Jazz und Pop, beginnen vormittags mit den Proben für eine Band und beenden den Tag nach 22 Uhr mit einer anderen. Obendrein geben viele Musikunterricht – seit den Corona-bedingten Einkommensverlusten sind solche Jobs wichtiger denn je. Anfang März spielt Cenk Erdoğan mit seinem Trio in einer Hotelbar im angesagten Viertel Beyoğlu.

Draußen riecht es nach auf Holzkohle gerösteten Maiskolben, drinnen ist nicht viel los – es es ist Ramadan. Aber die Band dreht richtig auf, ihr in alle Richtungen offener Jazz mit Elementen von Blues und Flamenco beschallt die gesamte Lobby des Hotels.

Später erwähne ich den Satz, den mir eine junge Istanbulerin erzählte. In den letzten zehn Jahren habe sich die Türkei als nahöstliches Land verkleidet. Richtet sich das Land also gen Osten aus? Anstelle einer direkten Antwort erzählt Cenk Erdoğan von einer Tour durch die USA im Jahr 2019. »Wir waren mittendrin, Montana und solche Staaten, wo fast alle Trump wählen. Das Publikum war begeistert, sie sagten, sie würden unsere nahöstliche Musik lieben. Das hat mich frustriert, denn die Türkei ist kein nahöstliches Land! Wir haben mit den arabischen Ländern wenig gemeinsam, unsere mikrotonalen Stimmungen sind ganz anders. Aber die Welt sieht es so, und es ist anstrengend, diese Sicht zu ändern.«

Erdoğan kann im Gegensatz zu den meisten Künstler*innen in der 16-Millionen-Stadt gut von seiner Musik leben, weil er international tourt. Er ist der glückliche Besitzer eines Fünf-Jahres-Visums für den Schengen-Raum – eine Rarität in der Türkei. Erdoğan bemängelt dennoch die mangelnde Unterstützung der Regierung; nur Regierungsbeamte und ausgewählte Personen bekommen die erfolgversprechenden grauen Pässe. Die Visa-Vergabe scheint vollkommen willkürlich zu verlaufen, wozu die EU einen großen Beitrag leistet. Selbst Türk*innen mit Job-Zusage im Schengen-Raum müssen oft länger als ein halbes Jahr auf ein Visum warten, wie eine Borusan-Angestellte berichtet.

Derweil macht die galoppierende Inflation allen Türk*innen das Leben schwer. Die Zahl der Sozialhilfeempfänger hat sich in zehn Jahren mehr als verdoppelt. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung arbeitet zum Mindestlohn von umgerechnet 580 Euro. Der Journalist Bülent Mumay klagt in seiner »FAZ«-Kolumne regelmäßig die Vetternwirtschaft im Land an. »Was Sie verdienen oder an Geld verlieren, ist davon bestimmt, in welchem Verhältnis Sie zur Regierung stehen«, schreibt er.

Vorsichtig frage ich nach künstlerischen Freiheiten unter einem scheinbar allmächtigen autoritär-nationalistischen Regime. Cenk Erdoğan sagt: »Es geht gar nicht darum, dass man uns die Musik verbieten will. Aber wenn man sich abends trifft, trinkt man, und das mögen die Konservativen nicht. Alkohol ist sehr teuer geworden, das ist schlecht für die Clubs. Und die Tiktok-Generation schert sich sowieso nicht um Religion, die wollen nur sich selbst zeigen.«

Mein letzter Abend in Istanbul zeigt mir, wie sehr sich die Menschen in Istanbul nach westlichen Einflüssen sehnen. Ein freundlicher junger Mann mit runder Brille klopft an der Zimmertür des Hotels; er ist gekommen, um dem Fernseher ein Update zu verpassen. Während das Gerät lädt, führt er Smalltalk und zeigt sich begeistert über meine deutsche Herkunft. »Wir würden gern so leben wie ihr, der Einfluss des Islam ist viel zu stark hier. Wir haben Angst, dass es sich so wie in Syrien entwickelt.«

Ich lenke das Gespräch auf die Musik, und plötzlich explodiert er geradezu vor Begeisterung. »Musik ist alles, Musik ist eine universale Sprache, Musik ist Liebe!« Der Mann verabschiedet sich. Ich schalte den Fernseher ein und entdecke unter den 100 Sendern das ZDF.

Die Recherche wurde ermöglicht durch Unterstützung der Borusan Group.

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