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Demokratie auf Raufaser
Das Kunstwerk des Monats: Tarnanzug und Habermas in Bielefeld
Jürgen Habermas auf weißem Grund. Von den fabrikneuen Sneakern, die der Habermas-Biograf Philipp Felsch bei seinem Hausbesuch beim Philosophen in dessen Bungalow in Bayern bewunderte, ist hier nichts zu sehen. Und auch nicht die blühenden Landschaften, die sich nach der letzten Bundestagswahl in Ost und West blau-braun einfärbten. Der Kopf des Philosophen ist freigestellt und ohne Kontext oder Hintergrund ins Bild eingezeichnet. Er schaut schief von der linken oberen Ecke herab, als wäre er schweigend ins Gespräch vertieft. Die räsonierende Geste des Intellektuellen verrät nicht, welcher Gedanke sich dahinter verbergen mag.
Für Goethe ist die Kunst »eine Vermittlerin des Unaussprechlichen«. Was ist daran bewegend, was politisch? Das erklären wir an einem aktuellen oder historischen Beispiel: Das Kunstwerk des Monats.
Es gibt keinen direkten Blickkontakt zu den Betrachter*innen, die dem Porträtstück tiefer gehängt, knapp über der Fußleiste begegnen. In der Ausstellung »Der zwanglose Zwang« von Alex Wissel im Kunstverein Bielefeld steht der Demokratietheoretiker Jürgen Habermas, der im vergangenen Juni 95 wurde, im Mittelpunkt, als Konstrast zur identitären Politik des Rechtspopulismus, die zunehmend erfolgreicher wird. Der bildende Künstler, Bühnenbildner und Schauspieler Wissel setzt damit seine langjährige Beschäftigung mit den Wurzeln antidemokratischer Politik fort.
Stoisch verläuft die Raufasertapete, auf Stoß geklebt, in horizontalen Bahnen über die Bildfläche und bricht die Illusion eines tiefen Bild- oder Denkraums, in den man sich selbst hineinversetzen könnte. Über den Kopf des Philosophen hinweg verweist die Tapete das Bild ins Häusliche. Noch immer ist es der Haushalt, auf dem jede Regierung sich begründet oder an dem sie zerbricht. Damit wird zugleich auch die reduzierte Bildökonomie der Darstellung selbstreferenziell ausgestellt. Die Wahl des Maluntergrunds ist kein Zufall, wie der Künstler gerne verrät. Raufaser sei eine Tapete aus mehreren Papierschichten mit eingearbeiteten Holzspänen und deshalb besonders in der Nachkriegszeit beliebt gewesen, um Baumängel und unebene Wände zu kaschieren. Besonders günstig ist sie noch dazu. Dies erschien ihm passend zum Bildsujet.
Habermas hat den wirtschaftlichen Aufbau Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg wie kaum ein anderer kritisiert, in dem eine tiefgehende gesellschaftliche und politische Aufarbeitung des Nationalsozialismus weitgehend ausblieb – aller nationalen Erinnerungskultur und Staatsräson zum Trotz. Das nationale Haus wurde bewohnbar, wenn auch in Schieflage. Architektur als Identitätspolitik, wie sie Philipp Ostwalt unlängst am Beispiel des Berliner Stadtschlosses beschrieb. Eine symbolische Form für das Wirtschaftswunder und die Westintegration – erst die Wirtschaft, dann die Moral, wie sich bei Quinn Slobodian nachlesen lässt.
In seiner 1983 erschienenen »Theorie des kommunikativen Handelns« argumentierte Habermas, dass alle Wahrheit auf einem gesellschaftlichen Konsens beruht, der immer wieder neu ausgehandelt werden muss. Voraussetzung dafür ist die Hypothese eines »herrschaftsfreien Diskurses«, in dem sich das beste Argument durch rationale Überzeugung und ohne äußeren Zwang durchsetzt, sofern sie sich um rationale Verständigung bemüht. Dies sollte die Spielregeln für eine demokratische Gesellschaft bilden, die sich auf Grundlage einer gerechten Verfassung legitimiert. Wer sich damit arrangieren kann, darf mitspielen, wer nicht, ist frei zu gehen. Das ist die einfache Wahrheit des liberalen »Verfassungspatriotismus«, den Habermas stets gefordert hat. Er erkannte selbst die enorme Herausforderung seiner auf Konsens basierenden Gesellschaftstheorie, längst sei ein neuer »Strukturwandel der Öffentlichkeit«, wie ein älteres Buch von ihm heißt, zu beobachten. Er diagnostizierte eine Fragmentierung der Öffentlichkeit, die eine deliberative Politik, eine der Diskussion und Abwägung, zur Folge hat.
Kommunikatives Handeln in ideologischen Echokammern aber braucht keinen Verfassungspatriotismus und ersetzt rationale Argumentation durch libertäre Männlichkeit. Der rechts-libertäre Anarchokapitalist und Habermas-Schüler Hans-Hermann Hoppe ist sich längst sicher, dass heutzutage Demokratie durch einen entfesselten Kapitalismus ersetzt werden sollte, der ausschließlich auf Privateigentum beruht. Frei nach Ludwig XIV. lässt sich dann auch wieder sagen: »Der Staat, das bin ich.«
Der Elefant im Raum trägt in Wissels Kunst der Realsatire einen Morphsuit und hat sich schon aus den engen Bildgrenzen von Habermas Kommunikationsraum verabschiedet. Er schwebt im Lotussitz über dem nostalgischen Stück Flachware und dem Habermas-Bild. Seine Körperhaltung kommuniziert meditative Gelassenheit und erinnert an den esoterischen Kern, der so manche Querdenker*innen mit Rechtsextremen und libertären Anarchokapitalist*innen verbindet.
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In den Traumfabriken des Films dienen Morphsuits als Tarnkappen. Wer sie trägt wird unsichtbar, ununterscheidbar von der Umgebung – und geht in den visuellen Untergrund. In diesem Fall trägt die anonyme Gestalt die Farben Schwarz, Rot, Gold und wird so zur personifizierten Nationalflagge. Doch mit wem haben wir es hier eigentlich zu tun? Sieht so die/der ideale Stellvertreter*in der selbsternannten »schweigenden Mehrheit« aus, die selbstbewusst »Wir sind das Volk« schreit, da sie sich von den gewählten Volksvertreter*innen nicht mehr repräsentiert fühlt? Oder ist es doch der post-digitale Avatar eines neuen Verfassungspatriotismus?
Doch die Geister, die ich rief, werde ich nicht mehr los. Letztlich bleibt auch das schwarz-rot-goldene Phantom eine vortreffliche Projektionsfläche für die Phantasmen des Volkstheaters ambitionierter Verschwörungstheoretiker*innen und unterscheidet sich damit kaum von der guten alten Raufasertapete. Im provinziellen Deutschland dieser Tage verfangen diese Geschichtchen leider immer noch allzu oft.
Alex Wissel gelingt es in seiner Kunst, den magischen Realismus der politischen Gegenwart mit spitzem Zeichenstift auf den Punkt zu bringen. Der Realität jedenfalls kommt die Kunst gerade kaum noch hinterher. Aber vielleicht hilft Humor zumindest ein bisschen, um nicht ganz und gar vom Glauben abzufallen und den Verstand zu verlieren.
»Der zwanglose Zwang«, Kunstverein Bielefeld, bis 27.4.
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