Die toten Dörfer an der Blauen Linie

Im Südlibanon werden Bewohner aus zerstörten Gebieten systematisch vertrieben, um Platz für eine israelische »Pufferzone« zu schaffen

  • Pierre Barbancey, Südlibanon
  • Lesedauer: 8 Min.
Viele Bewohner kehren in ihre Dörfer zurück und trotzen der Zerstörung.
Viele Bewohner kehren in ihre Dörfer zurück und trotzen der Zerstörung.

Abbas Jomea ist noch immer fassungslos. Nichts ist ihm geblieben. Steinblöcke dienen ihm als Sitzgelegenheit und als Unterlage für einen provisorischen Tisch. Die nackte Zementplatte, auf der er steht, markiert den Grundriss seines ehemaligen Zuhauses: Das Erdgeschoss war seine Tischlerei, die erste Etage die eigentliche Wohnung, in der er mit seiner Frau und seinen Kindern lebte. Und nun: keine Wände mehr, kein Dach.

Jomea hat einen alten Holzofen wieder brauchbar gemacht, um wenigstens etwas Feuer machen zu können. Gerade ausreichend, um eine Teekanne und einen Ibrik zu erhitzen, jene kleine Kupferkanne mit langem Griff, die unverzichtbar ist, um Kaffee zuzubereiten. Die Gegend um ihn herum ähnelt einer Mondlandschaft. Kein einziges Haus steht mehr. Es ist eine Wüste aus zerbrochenen Betonblöcken, aus wie Unkraut aus dem Boden schießendem Metallschrott, aus verkohlten Matratzen und zertrümmerten Alltagsgegenständen.

Der 54-jährige Jomea hätte nie geglaubt, dass er einmal auf den Ruinen seines eigenen Hauses kampieren würde, während seine Familie in Nabatieh ist. »Wir sind am 8. Oktober abgereist, wie alle anderen auch, vor allem, weil die Kinder nicht mehr zur Schule gehen konnten«, sagt er mit Blick auf den Ausbruch der Feindseligkeiten zwischen Israel und der libanesischen Hisbollah im Jahr 2023. Trotz des Waffenstillstands, der am 27. November 2024 in Kraft getreten war, kehrte er erst im Februar zurück und sah den Schrecken mit eigenen Augen: »Die israelische Armee kam am 24. September und sprengte alle Häuser in die Luft. Es ist nichts mehr übrig. Alles ist zerstört, alles liegt in Trümmern.«

Trotzdem will Jomea nicht aufgeben: »Auch wenn wir keine Hilfe bekommen, werde ich an derselben Stelle mein Haus wieder aufbauen. Wenn es sein muss, werde ich es aus Holz bauen. Dies ist unser Land, wir können es nicht verlassen.« Dann steht er auf und deutet mit einer ausladenden Geste ins Tal hinunter. Die kleine Gemeinde Kfar Kila, zu der auch der Wohnort von Jomea gehört, erstreckt sich – oder vielmehr erstreckte sie sich – über die Blaue Linie, jene Trennlinie, die die Uno nach dem israelischen Rückzug aus dem Libanon im Mai 2000 zog und damit die 1982 begonnene Besatzung beendete. Eine falsche Grenze, die in Wirklichkeit nur eine Rückzugslinie ist.

L’Humanité

Die französische Tageszeitung L’Humanité wurde 1904 vom Sozialisten Jean Jaurès gegründet. Ursprünglich als Sprachrohr für die sozialistische Bewegung gedacht, vertritt sie seitdem konsequent linke und sozialistische Positionen. Sie setzt sich für soziale Gerechtigkeit, Arbeitnehmer*innenrechte und weltweiter Frieden ein.

Die Zeitung ist das ehemalige Zentralorgan der Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF). 1999 entfiel der explizite Hinweis auf die Partei. Seit 2004 gehört die Zeitung zu 40 Prozent der PCF, Freund*innen und Mitarbeiter*innen halten je zehn Prozent, die Gesellschaft der Freunde 20 Prozent und Großunternehmen wie Sparkassen, der Sender TF1 und der Rüstungskonzern Lagardère den Rest. Heute arbeiten bei der L’Humanité etwa 60 Redakteur*innen; die Zeitung hat etwa 40 000 Abonnent*innen. Das 1930 erstmals begangene Pressefest, die Fête de L’Humanité, ist bis heute ein wichtiger Termin des gesellschaftlichen Lebens in Frankreich.

Der Anblick, der sich in Kfar Kila bietet, ist erschreckend. Die wenigen noch stehenden Häuser sind völlig zerstört. Die anderen liegen in Schutt und Asche. Eine Stadt, die durch Luftangriffe, Panzergranaten und – als wäre das nicht genug – der Bombardierung dessen, was noch übrig war, von der Landkarte verschwunden ist. Einigen israelischen Soldaten war es offensichtlich ein Anliegen, dass ihre Zerstörungsaktionen in Erinnerung bleiben: Auf Mauerstücken sind Davidsterne aufgebracht.

Trotz des Schreckens der Ruinen kehren die Bewohner nach der Waffenruhe inzwischen wieder zurück und machen sich an die Aufräumarbeit. Sie kommen, um zu sammeln, was sie können. In den ersten Tagen wurden mehrere Leichen aus den Trümmern geborgen. Überall wehen die Flaggen der Hisbollah. Porträts junger Männer, die im Kampf gefallen sind, werden dort aufgestellt, wo ihre Familien lebten.

Fatima Chit, 39, steht in einem langen schwarzen Kleid, einer Abaya, vor einer skurrilen Kulisse. Die Fassade ihres Hauses stürzte ein und gab den Blick auf ein Zimmer im Obergeschoss frei, das wie durch ein Wunder verschont geblieben war. Als Mobiliar stehen in dem Zimmer lediglich drei Sessel, ein Sofa, Plastikstühle und ein kleiner Tisch. An einer Wand ein Foto des von Israel getöteten Hisbollah-Führers Hassan Nasrallah. »Wir waren bei seiner Beerdigung, aber für uns ist er nicht tot«, sagt sie.

»In der Pufferzone im Libanon bleiben wir ohne zeitliche Begrenzung, es wird von der Situation abhängen, nicht von der Zeit.«

Israel Katz Israelischer Verteidigungsminister

Fatima Chit »wohnt« mit ihrem Sohn und ihrer Tochter in dem zerstörten Haus. Ihr Mann fand eine Arbeit in einer weniger zerstörten Gegend etwas weiter nördlich. Sie seien am 4. Januar 2024 nach Al-Bablieh aufgebrochen, »damit die Kinder zur Schule gehen konnten, aber unsere Heimat ist hier. Das ist unser Land«, betont sie. Diese Meinung teilen wohl alle Bewohner von Kfar Kila. Adam, Fatima Chits Sohn, gerade erst 13 Jahre alt, versteht sehr gut, was passiert: »Wir bringen unser Haus in Ordnung, um den Israelis zu zeigen, dass wir wiederkommen und hier zu Hause sind.«

Offiziell wurde ein Waffenstillstand zwischen Israel und Libanon erklärt. In Wirklichkeit ist der Krieg aber noch lange nicht vorbei, er geht in anderer Form weiter. Um sich davon zu überzeugen, muss man nur durch die Dörfer reisen, die entlang der berühmten Blauen Linie liegen (was nicht leicht ist, da israelische Bulldozer den Asphalt massiv aufgerissen haben).

Am 27. Februar kündigte der israelische Verteidigungsminister Israel Katz an, dass die israelische Armee an mindestens fünf strategischen Punkten auf libanesischem Gebiet stationiert bleiben werde, obwohl das Waffenstillstandsabkommen den vollständigen Rückzug der israelischen Einheiten aus dem Südlibanon vorsieht. »In der Pufferzone im Libanon bleiben wir ohne zeitliche Begrenzung, es wird von der Situation abhängen, nicht von der Zeit«, sagte Katz. Für diese Entscheidung hätten die USA grünes Licht gegeben. Es ist offensichtlich nicht die einzige Verletzung der Bestimmungen des Abkommens: Bereits am 1. Dezember, kurz nach Inkrafttreten der Vereinbarung, warfen die französischen Behörden der israelischen Armee vor, den Waffenstillstand innerhalb von fünf Tagen mehr als 50 mal verletzt zu haben. Zudem gebe es Versuche der israelischen Regierung, das internationale Komitee zu umgehen, das für die Einhaltung der Waffenstillstandsvereinbarung zuständig ist.

In Aita A-Schaab, einer Ortschaft, die sich bis zur Blauen Linie erstreckt, erwartet die Menschen die gleiche Verwüstung wie in Kfar Kila. Die direkten Kämpfe waren heftig. Nun kehren die Bewohner zwar zurück, sie werden jedoch aufgrund der totalen Zerstörung erneut zur Flucht gezwungen. Als Vertriebene erhielten sie umgerechnet 300 Euro im Monat und wurden über die Kommunen mit Lebensmitteln versorgt. Einer von ihnen versicherte uns, dass die Hisbollah den Menschen, deren Häuser zerstört worden waren, 12 000 Euro gezahlt habe. Von einem Wiederaufbau der Gebäude kann aber vorerst keine Rede sein.

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Auch in die Stadt Hula, die wegen der vielen kommunistischen Familien »Rotes Hula« genannt wird, ist die israelische Armee einmarschiert und hat Häuser besetzt. In einem Garten liegen leere Munitionskisten, ebenso wie leere Alkoholflaschen. Bevor die Soldaten abzogen, legten sie Feuer. Sie schändeten zudem das Denkmal für die Opfer des Krieges von 1948, zerbrachen die Stele und malten einen Davidstern darauf. »Es wird mindestens zehn Jahre dauern, die Stadt wieder aufzubauen«, prophezeit Dr. Omran, ein Prominenter aus Hula, der die israelischen Plünderungen anprangert.

Beim Verlassen der ebenfalls durch Bombenangriffe dem Erdboden gleichgemachten Kleinstadt Markaba steckt man schnell fest. Der Zugang wird von der libanesischen Armee kontrolliert, die jeden daran hindert weiterzugehen. »Wenn Sie unsere Barriere überschreiten, werden die Israelis auf Sie schießen«, warnt ein Soldat. Von einem geschützten Platz aus zeigt er uns den israelischen Beobachtungsposten, auf dem keine Flagge weht, was ungewöhnlich ist. Er wurde erst vor Kurzem errichtet und ist einer der fünf von Israel besetzten »strategischen Punkte« – auf einer Höhe von 800 Metern. Wie auch an allen anderen besuchten Orten liegt das Summen einer Drohne in der Luft. »Es hat seit Beginn des Krieges nicht aufgehört, obwohl es unser Luftraum ist«, beschwert sich ein libanesischer Offizier, der jedoch zugleich einräumt, nichts gegen die Drohnen tun zu können.

Kurz darauf trifft ein Panzerfahrzeug der Unifil (der im März 1978 gegründeten Interimstruppe der Vereinten Nationen im Libanon) ein, deren Aufgabe es heute ist, die Umsetzung der 2006 verabschiedeten UN-Resolution 1701 zu überprüfen, die den vollständigen Rückzug Israels aus dem Südlibanon und die Stationierung der Hisbollah nördlich des Litani-Flusses vorsieht. Die Umsetzung der Resolution bleibt jedoch ein ewiger Kampf – und eine heikle Mission für die Blauhelme. Die sogenannten Friedenstruppen sind gerade in der Nähe der illegalen israelischen »Festung« vorbeigekommen. Einige ihrer Angehörigen wurden von der israelischen Armee mehrfach verletzt.

Auch das christliche Dorf Rmeisch ist ein Beleg für die Absicht Israels, Pufferzonen auf libanesischem Gebiet einzurichten. »Wir haben die Hisbollah gebeten, sich hier nicht an den Kämpfen zu beteiligen«, erklärt El Khoury Najib el Amir, der Gemeindepfarrer aus dem Ort. »Sie haben unsere Bitte akzeptiert. Wir haben mit unseren schiitischen Freunden nie Probleme gehabt.«

»Warum sind die Israelis nicht in Rmeisch einmarschiert?« Der Kirchenmann hat seine eigene Erklärung: »Sie wollten keinen Ärger mit dem Vatikan. Der Apostolische Nuntius (der Vertreter des Papstes im Libanon – Anm. d. Red.) kam während des Krieges fünfmal hierher.« Allerdings erstreckt sich vom Dorf bis zur Blauen Linie auf 1500 Metern eine landwirtschaftliche Zone, in der sich Hisbollah-Kämpfer bewegen und verstecken könnten. Durch israelische Angriffe mit weißem Phosphor wurden 10 000 Olivenbäume verbrannt, die den Kämpfern Deckung boten. »Wir haben versucht, das Feuer zu löschen, aber die Israelis haben geschossen, also konnten wir nichts tun.«

Seither hat sich niemand mehr dorthin gewagt. »Es gibt keine Kommunikation mit Israel, es handelt sich um eine Botschaft per Kugelhagel«, sagt der Priester sarkastisch. Er verbirgt seine Besorgnis nicht. Das Vorgehen der Israelis in den schiitischen Dörfern zeigt, dass sie keine Rückkehr der Bewohner wollen. Auf dem Rückweg bricht auf den Feldern die rote Farbe der Mohnblumen hervor. »Es ist das Blut der Märtyrer, das an die Oberfläche kommt«, wird uns gesagt.

Der Text ist am 4. März in unserer französischen Partnerzeitung »L’Humanité« erschienen. Er wurde mit KI-Programmen übersetzt, nachbearbeitet und gekürzt.

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