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  • Opposition gegen Präsident Netanjahu

Eine neue Wutwelle in Israel

In Israel wächst die Opposition, je unbeliebter sich Präsident Netanjahu macht

  • Oliver Eberhardt
  • Lesedauer: 5 Min.
Protest vor dem Verteidigungsministerium in Tel Aviv zur Freilassung der Geiseln am 18. März 2025
Protest vor dem Verteidigungsministerium in Tel Aviv zur Freilassung der Geiseln am 18. März 2025

Noch vor wenigen Monaten schien sie tot. Doch nun ist Israels Linke zurück, so lebendig wie schon seit Jahren nicht mehr, man muss sich nur an einen neuen Namen gewöhnen. Die sozialdemokratische »Avoda« – jene Arbeitspartei, die bis 1977 jahrzehntelang Politik und Gesellschaft dominiert hatte – sowie die linksliberale »Meretz«, die Anfang der 1990er Jahre an der Aushandlung der Osloer Verträge beteiligt war, gibt es nicht mehr: Beide Parteien haben sich unter dem Namen »Demokraten« zusammengeschlossen.

Und diese stehen gut da – weil das Land schlecht dasteht, sind sich Meinungsforscher und Politikwissenschaftler einig. Denn 15 Jahre, nachdem Benjamin Netanjahu 2009 Regierungschef wurde, und anderthalb Jahre nach Beginn des Gaza-Krieges herrscht eine tiefe soziale, wirtschaftliche und auch moralische Krise: »Die vergangenen Jahre waren für mich und viele in meinem Umfeld sehr verwirrend«, sagt Rachel Levy. Sie ist Ärztin an einem Krankenhaus in Be’er Schewa im Süden Israels. In den Tagen nach dem 7. Oktober 2023 haben sie und ihre Kollegen viele der Opfer des von der Hamas und dem Islamischen Dschihad verübten Massakers behandelt. »Unsere Wut war gigantisch«, erzählt sie. »Die Hamas müsse zerstört werden, haben wir alle gesagt. Aber was ist daraus geworden? Wo verläuft die Grenze? Es ist eine Menge, was wir alle derzeit zu verarbeiten haben. Alles steht auf dem Spiel.«

Einen Großteil ihrer Freizeit verbringt Levy mittlerweile auf Demonstrationen, verteilt Flugblätter gegen den Krieg, gegen Korruption, gegen den Demokratieabbau. In Israel gehört all das und noch viel mehr seit einiger Zeit zusammen. Netanjahu und sein Umfeld stehen länger schon im Mittelpunkt von Skandalen und Korruptionsvorwürfen. Politisch lässt die Regierung der Siedlerbewegung freie Hand, was kein Wunder ist, weil sich Netanjahu und sein Likud nur mit Unterstützung des rechtsextremen Bündnisses »Religiöser Zionismus« an der Macht halten kann. Sogar eine Vertreibung der gesamten Bevölkerung im Gazastreifen sowie ein Wiederaufbau der israelischen Siedlungen dort wird von Koalitionsabgeordneten offen und vor allem im eigenen Lager unwidersprochen diskutiert.

Und nun versucht Netanjahu wieder einmal Personal zu feuern, das ihm zu nah gekommen ist. In der Nacht zum Freitag ließ der Regierungschef mitteilen, das Kabinett habe einstimmig die Entlassung von Ronen Bar, dem Chef des Inlandsgeheimdienstes Schin Beth beschlossen. Der Oberste Gerichtshof legte die Entlassung allerdings vorerst auf Eis. Am Sonntag soll zudem ein Amtsenthebungsverfahren gegen Generalstaatsanwältin Gali Baharav Miara beginnen. Bar hatte der Regierung zuvor in einem Brief Fehlverhalten während des Massakers vorgeworfen und einen Untersuchungsausschuss gefordert. Außerdem hat der Schin Beth Ermittlungen gegen Regierungsmitglieder und Mitarbeiter Netanjahus aufgenommen: Sie sollen Geldgeschenke aus Katar erhalten haben. Die dortige Regierung hatte jahrelang mit Zustimmung Netanjahus Milliarden Dollar an die Hamas-Regierung in Gaza gezahlt – offiziell für den Wiederaufbau. Mittlerweile geht man in Israel davon aus, dass das Geld überwiegend in die Aufrüstung der Organisation gesteckt wurde.

Es ist das erste Mal überhaupt, dass die Regierung einen Geheimdienstchef entlässt. Und nun passiert es auch noch mitten im Krieg, denn vor einigen Tagen hat Israels Militär die Kämpfe im Gazastreifen wieder aufgenommen.

Immer wieder äußern Israelis die Befürchtung, dass Netanjahu in Israel einen ähnlichen Umbau wie Trump in den USA planen könnte.

Auch das facht nun die Proteste weiter an. Und treibt mehr Menschen zu den neuen »Demokraten«: In den Umfragen stehen sie bei zwischen zehn und 14 von 120 Sitzen. Die kommunistische Chadasch wird derzeit bei sechs Sitzen verortet. Netanjahus Likud hingegen werden zwischen 20 und 24 Sitze vorhergesagt. Und die nächste Wahl wird spätestens im Herbst kommenden Jahres abgehalten.

»Genug Zeit, um sich noch unbeliebter zu machen«, sagt Levy und verweist auf Netanjahus Nähe zu Trump. Lange Zeit hatte dieser einen viel besseren Ruf in Israel als in Europa. Gründe dafür waren seine proisraelische Haltung, die Aufkündigung des Atomabkommens mit dem Iran sowie die Verlegung der US-Botschaft nach West-Jerusalem während seiner ersten Amtszeit.

Doch nun hat Trumps Ruhm auch in Israel eine kräftige Delle bekommen, dank Elon Musk, vermuten Meinungsforscher. Immer wieder äußern Israelis in Gesprächen die Befürchtung, dass Netanjahu in Israel einen ähnlichen Umbau wie Trump in den USA planen könnte und fühlen sich durch sein Vorgehen gegen Bar und Baharav Miara bestätigt. Immerhin hatte der Regierungschef vor Kriegsausbruch bereits versucht, die gesamte Justiz nach seinem Ebenbild umzugestalten, gegen den erbitterten Widerstand der Bevölkerung.

Denn in Israel ist eines anders als in vielen Ländern: Die Regierung soll sich aus dem Geschäft von Geheimdiensten, Justiz und Militär heraushalten. Beides soll frei von Parteipolitik gehalten werden. Netanjahu indes sieht das anders: »Wenn ein starker rechter Führer eine Wahl gewinnt, munitioniert der linke ›Deep State‹ die Justiz, um den Willen des Volkes zu vereiteln«, verkündete er zunächst über den Regierungsaccount bei »X«, löschte den Post dann schnell wieder und veröffentlichte ihn auf seinem eigenen Account.

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Die Entwicklungen riefen auch Präsident Isaac Herzog auf den Plan: Es sei undenkbar, die Kämpfe wiederaufzunehmen, während immer noch Geiseln in Gaza festgehalten würden, sagte er in einer Videobotschaft. Zurzeit befinden sich noch 58 Geiseln in Gaza, von denen 35 tot sein sollen. Herzog sagte aber auch, er sei zutiefst besorgt über die Auswirkungen der »einseitigen Maßnahmen« auf die nationale Verteidigungsfähigkeit.

Und schon bald droht die nächste Wutwelle: In der kommenden Woche beginnen in der Knesset die Haushaltsberatungen. Geplant sind Steuererhöhungen und Kürzungen im Bildungswesen. Außerdem soll es Vergünstigungen für Ultraorthodoxe und die Siedlerbewegung geben.

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