»Vom Älterwerden«: »Die Leute werden alt und dumm«

Paula Schmid entführt in die fabelhafte Welt des Alterns

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.
Die besten Tage ...
Die besten Tage ...

Von Anna Seghers wird berichtet, dass sie bei einem auf sie ausgebrachten Trinkspruch, der ihr die Wiederkehr der verlorenen Jugend wünschte, erbleichte und flüsterte: »Bloß das nicht!« Jugend also ist nicht das Ideal schlechthin, jedenfalls nicht für jeden. Gewiss, man war kräftiger und vielleicht sogar schöner, aber auch naiver – zumindest ahnte man nicht, wie lang sich das Leben so hinziehen würde, um dann vermutlich zur Unzeit plötzlich doch zu Ende zu sein. Wozu also die ganze Mühe?

Diese Frage ist im Kern eine philosophische und Paula Schmidt hat als Herausgeberin für die Insel-Bücherei 30 Autoren versammelt, mit mehr oder weniger prägnanten Passagen aus deren Werken, das Alter betreffend. Es gibt subtil-böse Illustrationen dazu, die hier Cartoons heißen und von Beck stammen. Dieses kleine Buch ist dankenswerterweise keine ermüdende Verhöhnung der Alten aus der Sicht von Lebensanfängern, sondern versammelt die Stimmen derer, die wissen, wovon die Rede ist.

Den hinreißenden Titel »Warte mal, hab ich zu Hause mein Buch zugemacht?« darf man als eine Hommage auf die analoge Weltsicht verstehen. Natürlich gibt es eine verbindende Weltanschauung all derer, die sich hier zur Sache äußern, und die ist selten geworden: Selbstironie. So lesen wir zum Auftakt von Eugen Roth (früher kannte man den): »Wir sehn mit Grausen ringsherum/Die Leute werden alt und dumm/Nur wir allein im weiten Kreise,/Wir bleiben jung und werden weise.« Um manche Illusionen lohnt es sich zu kämpfen!

Seneca zu lesen, lohnt immer, auch die hier abgedruckten Seiten über das Sterben. Denn Seneca hatte allen Grund, seine Seelenruhe zu trainieren, teilte er doch das Schicksal so mancher Intellektueller: Er ließ sich mit den falschen Leuten ein, die seine Hoffnung nährten, an ihrer Seite würde er nicht mehr so mittel- und machtlos sein, wie es Philosophen normalerweise sind. Sein Gönner hieß Nero und war ein Fiasko. Denn der junge Kaiser Nero war zwar künstlerisch begabt, aber es gelang seinem philosophischen Berater nicht, ihm den Unterschied zwischen Leben und Tod beizubringen. Nero ließ so beiläufig morden, wie sich andere einen Hemdknopf öffnen, der sie stört. Es passierte, was bei solchen Herren passieren muss: Auch Seneca sollte irgendwann sterben. Gut, dass er sich darauf ein Leben lang vorbereitet hatte, wie hier nachzulesen ist: »Es ist ungewiss, an welchem Ort Dich der Tod erwartet, daher erwarte Du ihn an jedem Ort.« Leben heißt für Seneca, sterben zu lernen, aber nicht als resignative Abkehr vom Leben, sondern als souveräner Akt der Selbstbefreiung. Aus der Perspektive eines Vasallen von Kaiser Nero ist das durchaus nachvollziehbar: »Wer gelernt hat zu sterben, hat verlernt, Sklave zu sein; er steht über jeder, zumindest aber außerhalb jeder Gewalt.«

Cicero dagegen ist Optimist, das Alter ist ihm eine Art Blüte des Lebens, wenn auch eine merkwürdige. Sophokles, erinnert er uns, habe bis ins hohe Alter Tragödien geschrieben. Was wir im Alter vergessen, meint er, ist es wert, vergessen zu werden. Dagegen: »An alles, was ihnen am Herzen liegt, erinnern sich die Leute, an geleistete Bürgschaften, an ihre Schuldner und an ihre Gläubiger.« Das ist die Prosa des Lebens, der wir nicht entkommen.

Ulla Hahn hat in ihrem Gedicht »Älterwerden« den Drehpunkt unserer Existenz benannt, von dem ich mir aber nicht sicher bin, ob er das wirklich ist: »Erinnern statt sehnen.« Vielleicht ändert sich ja gar nicht so viel mit uns, außer dass alles immer weniger wird? Fontane notiert: »Und sollt ich noch einmal die Tage beginnen,/Ich würde denselben Faden spinnen.« Mehr muss man dazu eigentlich nicht sagen, außer vielleicht, dass sich in diesem Bekenntnis Fontanes ein glückliches Leben ausspricht. Denn noch mal von vorn können wir am Ende ohnehin nicht beginnen. Zeit ist Frist? Ab und zu muss man das vergessen können.

Die Cartoons von Beck sprechen zu uns, wenn man nach Bildern für die Absurditäten dieser Zeit-ist-Geld-Gesellschaft sucht, die unseren Konsum so machtvoll animiert, als wären Kontoeinzugsermächtigungen für die Ewigkeit gemacht. Fast sind sie das auch. Aber der Lebens-Gier des Alters steht eine wachsende Ermüdung gegenüber, eine Beschränkung, die man nicht mit Weisheit verwechseln sollte. Der dichtende Urologe Gottfried Benn wusste: »Mit vierzig fängt die Blase an zu tropfen.« Immerhin, der absonderlichen Anfänge ist kein Ende, immer denkt sich das Leben Neues aus, uns an seine Deutungshoheit über unsere kümmerliche Individualität zu erinnern. Man könnte auch von heilsamen Demütigungsakten sprechen. Sprechblase bei Beck in einem Bild mit zwei sehr alten Damen auf der Straße, die auf ihr Handy starren: »Im Alter brauche ich immer weniger Apps: Rollator-App, Lesebrillen-App und die Med-App reichen mir.«

So schweift diese schöne Textsammlung, die ebenso tröstlich wie witzig ist, um unser In-der-Welt-sein, das ein uns verborgenes Verfallsdatum besitzt. Wie hieß doch der Film mit Glenda Jackson (der ihr letzter wurde), in dem sie auf die Frage, wie lange sie noch zu leben habe, die Antwort erhält: »Fangen Sie keine dicken Bücher mehr an!« Den Titel habe ich vergessen, den Satz aber behalte ich.

Oh ja, beim Älterwerden bieten wir Alternden den notorisch Jungen eine komische Figur. Beck zeigt zwei Mädchen mit obligatorischem Handy: »Ich grusel mich davor, 40 zu werden und mit einer Handyhülle rumzulaufen, die wie ein Buch aufklappt.« Nun ja, da erträgt man die eigene komische Figur, die man macht, schon leichter: Wir wissen immerhin darum.

Der häufig unterschätzte Georges Simenon ist mit einer Tagebuchnotiz vertreten über seine Lektüre der »vier dicken Bände der Goncourt-Tagebücher, die mich aufregen und mit denen ich zu Ende kommen will«. Läuft ihm die Zeit davon? Ja, aber nicht beim Lesen (da scheint sie stillzustehen), sondern als Zeit, die ihm zum Lesen fehlt.

Unser Hang, die schöne neue digitale Welt immer noch am alten zerlesenen Buch zu messen, ist mehr als Nostalgie: Es ist Notwehr. Von Hermann Hesse findet man hier das Gedicht »Knarren eines geknickten Astes«. Es ist sein letztes und gleichzeitig eines seiner besten. Wenige Tage, nachdem er es geschrieben hatte, starb er: »Hart klingt und zäh sein Gesang,/Klingt trotzig, klingt heimlich bang/Noch einen Sommer,/Noch einen Winter lang.«

Paula Schmid (Hg.): Warte mal, hab ich zu Hause mein Buch zugemacht? Vom Älterwerden. Mit Cartoons von Beck. Insel-Verlag, 126 S., geb., 16 €.

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