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Die richtige Richtung
»Dreh den Mond um«: Auf ein paar Kirschbier mit Tex Rubinowitz in, sagen wir, Görlitz
In Görlitz zu sein, war natürlich ein Scheitern, das ich André Gide zu verdanken hatte. In »Les caves du Vatican« lässt er Lafcadio den ihm völlig unbekannten Fleurissoire aus dem fahrenden Zug werfen, einfach so, aus Lust und Laune. Diese durch nichts motivierte, im Grunde absurde Tat ist das, was die Literaturwissenschaft einen »Acte gratuit« nennt. Und ebenjener Akt der Willkür sollte, so hat sich das André Gide gedacht, Ausdruck einer individuellen Widerständigkeit gegen die Kausalität des Erzählens sein, ein Zeichen für die Möglichkeit des Individuums gegen seine Determination. Ein ganz schöner Schmarrn also, aber erwartbar von André Gide, der ja immer alles gewesen ist: Christ und schwul und Linker, der aber gegen den real existierenden Kommunismus war, und es eigentlich nie hat jemandem recht machen können.
Ich wollte es genauer wissen, ob das gehe, jemanden einfach so aus dem Zug zu stoßen – nicht dass ich das selbst vorgehabt hätte, in den heutigen Zügen lassen sich die Türen ja auch nicht mehr per Hand öffnen, aber vorstellen wollte ich es mir; und für so ein Unterfangen schien mir Görlitz die richtige Richtung zu sein. Es war natürlich ein Fiasko, ich dachte keine Sekunde ernsthaft daran, wie es wohl sein könnte, jemanden aus dem Zug zu stoßen, sondern nur, was ich in Görlitz zu Mittag essen könnte.
Eigentlich wollte ich direkt wieder zurückfahren, aber hinter uns war ein Sturm aufgezogen und hatte einen Baum umgeschmissen, direkt auf die Schienen der einzigen Bahnstrecke, die Görlitz mit dem Rest der Welt verbindet, und also saß ich jetzt im »Café Torberg«, drei Pflastersteine vom Bahnhof entfernt, und trank belgisches Kirschbier.
Das »Café Torberg« ist ein riesiger Saal, in dem fünf Kronleuchter Platz haben, und der noch größer wirkte, weil man eine Wand voll verspiegelt hatte; man könnte hier gut und gerne Bälle abhalten, wenn es dafür noch genug Görlitzer*innen gäbe, aber wir saßen nur zu zweit da, ich am Tresen und schräg hinter mir jemand, von dem ich dachte, ich hätte ihn bereits einmal im Fernsehen gesehen. »Die Brille«, sagte ich mir, »kennst du doch«, da fiel es mir wieder ein: Das musste Tex Rubinowitz sein, der sich durch die Speisekarte quälte, die im Grunde nur aus Bier, Soljanka und Escargots de Bourgogne bestand.
In Wien oder Berlin wäre mir das nie in den Sinn gekommen, aber ich war nun mal in Görlitz, also nahm ich mein Glas und setzte mich unversehens mit an seinen Tisch. Tex Rubinowitz hob überrascht den Kopf und schaute scharf an mir vorbei. Ich hätte jetzt etwas sagen sollen, aber mir ging genau in diesem Moment auf, dass ich nicht wusste, ob ich ihn duzen oder siezen sollte. Ich hatte gerade erst sein Buch »Dreh den Mond um« gelesen und hatte auch einige Fragen dazu – was zum Beispiel tatsächlich seine Meinung zu Abba und Elfriede Jelinek sei –, war mir aber völlig im Klaren darüber, dass diese Sorte Fragen aus der Lamäng heraus bestenfalls tollpatschig wirkt, was soll man auch zu Elfriede Jelinek sagen, mittags halb eins in Görlitz, während der Regen gegen die Scheiben zu fisseln beginnt.
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Ich bin nicht gut im Improvisieren, ein weiterer Grund, warum diese ganze Zugfahrt eine völlig sinnfreie Idee gewesen war, also fragte ich nur: »Was trinken?« Tex Rubinowitz nickte, ich ging zum Tresen und bestellte noch zwei Kirschbier. Als ich zurückkam, wirkte er etwas heller, obwohl er weiterhin stur vor sich hin blickte, nicht mehr auf die Speisekarte, aber auf den folierten Holztisch. Ich blätterte durch meine Kompetenzen; mir war klar, dass er in Sachen Malerei, Musik und überhaupt Popkultur, aber auch in nordischer Literatur und Klatsch aus der Künstler*innenszene mir derart weit voraus war, das ihn ein Gespräch schneller langweilen würde als diese Tischplatte vor ihm, und das wollte ich nun nicht.
Aber irgendetwas musste ich sagen, also räusperte ich mich und fragte völlig unvermittelt: »Lieben Sie Boris Vian?« Mir schien das eine naheliegende Frage zu sein, war Tex Rubninowitz mit seinen vielfältigen Talenten und seinen verspielten, fantastischen, immer wahren Texten doch sozusagen eine Art intellektueller Nachfahr, aber er schien weniger überzeugt. Er zupfte sich am Ohrläppchen und sagte: »Ja, warum nicht.« Vielleicht, wandte ich ein, sei Liebe ein zu starkes Wort, aber da schüttelte Tex Rubinowitz nur den Kopf: »Man kann alles lieben, was nicht hassenswert ist, wenn man sich nur Mühe gibt«, sagte er, und da war sie wieder, diese Rubinowitz’sche Zartheit des Vergrübelten, die vorsichtig nach der eigenen Sehnsucht tastet.
Wäre das ein Interview, dachte ich, hätte ich jetzt, was ich wollte, und könnte gehen, aber da lag ja noch dieser Baum auf der einzigen Bahnstrecke raus aus Görlitz. Also fragte ich ihn, was er in Görlitz suche, und da antwortete er mir, ohne auch nur aufzusehen: »Ein bisschen Ruhe eigentlich.« Und dann saßen wir noch zwei Stunden beim Kirschbier zusammen, ohne ein weiteres Wort zu sagen; und ich dachte an einen jener schönen Sätze, die er mir in »Dreh den Mond um« geschenkt hatte: »Ich bin positiv enttäuscht«, und zwar von mir selbst, ein schönes Gefühl, das ich halb Tex Rubinowitz, halb dem Kirschbier zuschreibe.
Tex Rubinowitz: Dreh den Mond um. Ventil, 272 S., br., 20 €.
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